Memento - Die Überlebenden (German Edition)
das auch auf ihren Trucks ist, ihren Bekanntmachungen, allen offiziellen Dingen. Die Klaue bedeutet Macht. Die Kids starren genauso auf die Klaue wie auf den Puppenkopf an ihrem Handgelenk, als würden die beiden sich gegenseitig auslöschen. Sie hasst es, dass die Uniform den Puppenkopf nicht verbirgt. Die Ärmel enden genau am Handgelenk. Aber sie hat jetzt so viel Macht wegen der schwarzen Klaue auf der Armbinde, dass es ihr fast egal ist. Sie spürt einen unerklärlichen Drang, ihnen zuzuraunen, dass sie mit einer Puppenkopffaust möglicherweise ebenfalls so eine Armbinde bekommen hätten. Es ist eine verdrehte Mischung aus Scham und Stolz.
Noch eine weitere Sache, für die sie sich irgendwie schämt, ist, dass sie so gut gegessen hat. Ihr Abendessen am Vortag und das Frühstück heute Morgen wurden ihr auf Tabletts serviert. Beide Male eine Suppe, eine fette dunkle Brühe mit Fleischbrocken darin und Zwiebeln. Dazu zwei Kanten Brot, eine großzügige Ecke Käse und ein Glas Milch. Die Milch ist sogar frisch – irgendwo muss es eine Kuh geben, die Milch gibt. Zu essen kommt ihr vor wie eine Kapitulation, wie ein Betrug an allem, woran sie geglaubt hat. Andererseits, wenn sie hier wieder wegwill, braucht sie Kraft. Zumindest kann sie sich damit ein bisschen vor sich selbst rechtfertigen.
Die anderen haben nur Brot bekommen, dazu dünne Scheiben Käse und Becher mit trübem Wasser. Sie haben Pressia misstrauisch und voller Neid beobachtet.
Keiner der Rekruten sagt ein Wort. Pressia kann sich denken, dass sie fürs Reden bestraft worden sind. Doch sie fragt sich auch, ob für sie nicht andere Regeln gelten. Es ist das erste Mal in ihrem Leben, dass sie richtiges Glück gehabt hat. Scheiß-Glück, das hat El Capitán zu ihr gesagt. Ein richtiges Scheiß-Glück! Sie weiß, dass sie diesem Glück nicht trauen darf. Dass sie nichts und niemandem trauen darf. Die Spezialbehandlung hat mit dem Reinen zu tun, mit Partridge. Es gibt keine andere Erklärung, oder? Ohne ihn wäre sie eine lebende Zielscheibe geworden und wahrscheinlich längst tot. Was jedoch genau von ihr erwartet wird, ist ihr nicht ganz klar.
Nachdem die Wache einen Blick in den Raum geworfen hat und weitergegangen ist, nimmt Pressia ihren Mut zusammen und bricht das Schweigen. »Worauf warten wir?«
»Auf unsere Befehle«, flüstert der Einbeinige.
Pressia weiß nicht, woher er das weiß, aber es klingt plausibel. Pressia wartet darauf, dass ihr Training anfängt. Ihr Offizierstraining.
Die Wache erscheint an der Tür und sagt einen Namen, Dreslyn Martus, und einer der Jungen steht auf und folgt ihr nach draußen.
Er kommt nicht wieder zurück.
Der Tag zieht sich in die Länge. Manchmal denkt Pressia an ihren Großvater. Sie fragt sich, ob er die eigenartige Frucht gegessen hat, mit der die Frau für das Nähen ihrer Wunde bezahlt hat. Sie denkt an Freedle. Hat ihr Großvater seine Gelenke geölt? Sie denkt an die Schmetterlinge auf dem Fenstersims. Hat er sie auf dem Markt als Tauschobjekte eingesetzt? Wie viele sind wohl noch übrig?
Sie versucht sich Bradwell bei der nächsten Versammlung vorzustellen. Wird er noch an sie denken? Wird er sich wenigstens fragen, was aus ihr geworden ist? Was, wenn sie der Offizier ist, der eines Tages in eine dieser Versammlungen platzt? Er hat nicht nach ihr gesucht, und das könnte ihre Chance sein, ihn im Hauptquartier abzuliefern. Aber sie würde ihn entkommen lassen – natürlich. Er würde ihr seine Freiheit verdanken. Höchstwahrscheinlich jedoch sehen sie sich nie wieder.
Sie lauscht den Schüssen in der Ferne und versucht eine lockere Abfolge zu erkennen, vergeblich.
Sie denkt ans Essen. Natürlich. Hoffentlich gibt es noch mehr davon. Es ist verwirrend, wie sehr sie sich danach sehnt, dass sich jemand um sie kümmert. Wenn sie es schafft, die Erwartungen zu erfüllen, wird sie vielleicht Offizier und kann Schutz für ihren Großvater organisieren. Wenn sie sich retten kann, dann vielleicht auch ihn.
»Pressia Belze.« Die Wache steht wieder in der Tür.
Pressia steht auf und folgt ihr nach draußen.
Diesmal sehen ihr alle nach.
Draußen im Gang sagt die Wache: »Du bist eingeladen, das Spiel zu spielen.«
»Was für ein Spiel?«, fragt Pressia.
Die Wache sieht sie an, als wollte sie ihr den Kolben des Gewehrs in den Leib rammen, doch Pressia ist Offiziersanwärterin. Sie trägt das Armband mit der Klaue. »Ich weiß es nicht genau«, sagt die Wache, und Pressia begreift, dass sie die
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