Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
Vom Netzwerk:
Wahrheit sagt. Sie weiß es nicht, weil sie nie eingeladen wurde, das Spiel zu spielen.
    Die Wache führt sie einen weiteren Gang hinunter und durch eine Hintertür nach draußen, und dann steht Pressia im Freien. Es ist kalt. Es ist Vormittag. Pressia ist überrascht, dass ihr das Zeitgefühl abhandengekommen ist.
    Ein Stück weiter unten, am Fuß des Hanges, ist ein Wald, verkohlt und nackt von den Bomben. Sie kann sich vorstellen, wie er früher ausgesehen haben muss – größere Bäume, raschelnde Blätter, umherfliegende Vögel. »Muss hier wunderschön gewesen sein, im Davor«, sagt sie.
    »Was?«, fragt die Wache.
    Pressia ist verlegen. Sie wünscht, sie hätte es nicht laut ausgesprochen. »Nichts«, sagt sie.
    »Dort. Da unten«, sagt die Wache. »Siehst du ihn?«
    Pressia entdeckt El Capitán in den Schatten. Von hier aus sieht er aus wie ein Buckliger, mit seinem Bruder Helmud. Die Spitze seiner Zigarre glüht. Er hat ein Gewehr vor der Brust, dessen Riemen er um sich und Helmud gelegt hat.
    Pressia dreht sich zu der Wache um. »Das Spiel wird hier draußen gespielt?«, fragt sie.
    Hat sie ein Kartenspiel erwartet? Ihr Großvater hat ihr früher irgendwann mal erklärt, wie man Pool spielt – die bunten Kugeln, die Stöße über Bande, die Taschen, die Queues.
    »Jepp. Hier draußen.«
    Pressia mag keine Wälder und kein Unterholz.
    »Wie heißt dieses Spiel?«, fragt sie.
    »Das Spiel«, sagt die Wache.
    Die Art, wie sie es sagt, gefällt Pressia nicht, aber sie tut unberührt. »Sehr originell. Als würde man eine Katze Katze nennen.«
    Die Frau starrt sie für einen Moment ausdruckslos an, dann gibt sie Pressia eine Jacke, die sie über dem Arm getragen hat.
    »Für mich?«
    »Zieh sie an.«
    »Danke.«
    Die Wache antwortet nicht. Sie kehrt in das Gebäude zurück und schließt die Tür hinter sich.
    Pressia mag die Jacke – wie sie sich um sie herum aufbläht. Wie ein warmes Federbett. Nichts geht durch, nicht die Kälte, nicht der Wind, der immer wieder in Böen kommt und geht. Das sind die Kleinigkeiten, die die Leute wirklich schätzen sollten. Einfache Freuden. Das ist alles, was sie in diesem Augenblick hat. Die Jacke ist warm, und manchmal sollte man für Kleinigkeiten dankbar sein. Wann hat sie sich zum letzten Mal so behaglich gefühlt wie in dieser Jacke? So warm und geborgen? Sie weiß, dass sie hier draußen sterben kann. Diese ganze Offiziersgeschichte ist Unsinn. Das Spiel könnte darin bestehen, dass sie diejenige ist, auf die Jagd gemacht wird, das weiß sie. Wenigstens, denkt sie, sterbe ich dann in einem warmen Mantel.
    Sie geht den Hang hinunter, während sie überlegt, was sie zu El Capitán sagen soll. Wie soll sie ihn anreden? Mit El Capitán? Es ist ein komischer Name. Hat er ihn sich selbst ausgedacht? Und wenn Pressia ihn so nennt, klingt es dann gezwungen oder – schlimmer noch – unaufrichtig? Sie will nicht, dass El Capitán denkt, sie mache sich über ihn lustig. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihm klar wird, dass Pressia keine echte Verbindung zu dem Reinen hat. Sie ist ihm auf der Straße begegnet, zufällig. Sie hat den Reinen zu seiner alten Adresse geführt, zu einem Trümmerhaufen. Das ist alles. Sie hofft, dass sie einen positiven Eindruck bei ihm hinterlassen kann, bevor er das alles herausfindet. Falls Eindrücke hier irgendetwas zählen. Sie beschließt, ihn überhaupt nicht mit seinem Namen anzusprechen.
    Als sie am Fuß des Hangs angekommen ist, bleibt sie für einen Moment unentschlossen stehen. Sie weiß nicht, wie sie anfangen soll. El Capitán pafft seine Zigarre, und sein Bruder starrt Pressia aus seinen weit auseinanderstehenden Augen an.
    El Capitán wirkt angewidert und kraftlos. Er mustert Pressia aus den Augenwinkeln und schüttelt den Kopf, als könnte er das alles nicht verstehen und als fügte er sich dennoch einer getroffenen Entscheidung. Er reicht Pressia ein zweites Gewehr. »Ich schätze, du hast keine Ahnung, wie man schießt.«
    Pressia nimmt das Gewehr in die Hand wie ein Musikinstrument – oder eine Schaufel. Sie hat noch nie ein Gewehr aus der Nähe gesehen, geschweige denn, eins in den Händen gehalten. »Ich hatte noch nie das Vergnügen«, antwortet sie.
    »Es geht so«, sagt El Capitán und nimmt ihr das Gewehr unwirsch aus der Hand. Er zeigt ihr, wie man es hält, wie man zielt und abdrückt, dann gibt er es ihr zurück.
    Sie hält das Gewehr mit ihrer guten Hand und balanciert den Schaft auf der Puppenkopffaust.
    Der

Weitere Kostenlose Bücher