Memoiren 1902 - 1945
letzten Wochen im Schneideraum waren körperlich ein Martyrium, nur noch eine Quälerei. Mehr als vier bis fünf Stunden Schlaf blieben uns nicht. Jeden Morgen, wenn ich aufstand, glaubte ich, zusammenzubrechen. Frau Peters schlief während dieser Monate bei mir, auch sie war am Ende ihrer Kräfte. Wenn wir in der Früh nach Hause kamen, umwickelte sie meine Beine mit nassen, kalten Bettlaken, damit ich besser einschlafen konnte. Schlafmittel wagte ich nicht zu nehmen.
Zu meiner Arbeit hatte ich kaum noch einen objektiven Abstand. Ich wußte nicht, wird der Film gut oder nicht. Täglich änderte ich den Schnitt, wechselte die Komplexe, nahm neue Szenen hinein und andere heraus, kürzte oder verlängerte die Aufnahmen solange, bis ich das Gefühl hatte, sie stimmen.
Der von der UFA festgesetzte Premieretermin in der letzten Märzwoche schwebte wie ein Damoklesschwert über meinem Kopf. Ich fürchtete, jetzt den Schnitt nicht mehr allein zu schaffen, und engagierte deshalb Herrn Schaad, einen der besten Schnittmeister, und beauftragte ihn, den «Vorbeimarsch» zu schneiden. Der Komplex sollte eine Laufzeit von 20 Minuten haben, wofür 10 000 Meter Filmmaterial zur Verfügung standen. Herr Schaad bekam für diese Arbeit einen eigenen Schneideraum, einen Assistenten und zwei Monate Zeit. Ich hoffte auf ein Gelingen.
Vor der Synchronisation ließ ich mir seine Rolle vorführen und bekam einen Schock. Ich hatte fest damit gerechnet, sie wenigstens als Rohschnitt verwenden zu können, aber sie war genauso unbrauchbar wie der Film von Ruttmann, es wirkte wie eine Wochenschau. Mir blieb nichts anderes übrig, als den gesamten Komplex neu zu schneiden. Zum Glück besaß ich inzwischen so große Übung, daß ich es in drei Tagen schaffte. Diese Tage mußten wir fast ohne Schlaf durcharbeiten.
Für den Bildschnitt verwendete ich ein kleines Lytaxgerät, womit auch Fanck seine Filme, solange sie Stummfilme waren, geschnitten hatte. So primitiv das Gerät auch war, so unentbehrlich wurde es mir; mit keinem anderen noch so guten Schneidetisch hätte ich so schnell arbeiten können. Es besaß keinen Bildschirm, sondern nur eine zweifache Vergrößerungslinse, durch die man das Filmmaterial hin und herziehen konnte. Ohne dieses Gerät, für die Augen zwar sehr anstrengend, hätte ich für den Bildschnitt ein Mehrfaches an Zeit aufwenden müssen. Anders verhielt es sich mit dem Tonschnitt. Man verwendete dafür meist Klangfilm- oder Unionstische. Übrigens sollte Herr Gaede, mein Toncutter, der Erfinder der Steenbeck-Schnei detische werden. Bei unserer gemeinsamen Arbeiten haben wir uns immer wieder den Kopf zerbrochen, wie man die Tontische verbessern könnte: Der Steenbeck-Tisch errang Weltruhm.
Für die Synchronisation hatten wir zwei Tage zur Verfügung. Hier entstand ein neues Problem, und wieder handelte es sich um den «Vorbeimarsch». Weder dem Komponisten Herbert Windt noch dem Kapellmeister gelang es, die für den Film vorgesehene Marschmusik synchron zum Bild zu dirigieren. Zu dieser Zeit gab es noch keine Kameras mit automatischer Geschwindigkeit, es wurde noch von Hand gekurbelt. Jeder Kameramann arbeitete mit einer anderen Geschwindigkeit, was für mich am Schneidetisch eine enorme Schwierigkeit bedeutete. Bei einigen Aufnahmen marschierten die Leute zu schnell, bei anderen zu langsam. So wurde es bei dem schnellen Bildwechsel den Dirigenten unmöglich, den Musikern immer rechtzeitig den Einsatz zu geben und die Musik den nach so verschiedenem Tempo marschierenden Gruppen anzupassen. Als trotz stundenlangen Übens weder der Kapellmeister noch Herr Windt imstande waren, die Musik synchron zum Bild zu bekommen, Herr Windt sogar vorschlug, auf den ganzen Vorbeimarsch einfach zu verzichten, übernahm ich es selbst, das aus achtzig Mann bestehende Orchester zu dirigieren. Ich kannte jeden Schnitt auswendig und wußte so rechtzeitig, bei welchen Aufnahmen die Musik schneller, bei welchen sie langsamer dirigiert werden mußte. Und in der Tat bekamen wir den Ton synchron.
Bis wenige Stunden vor der Uraufführung im UFA-Palast am Zoo, es war der 28. März 1935, arbeiteten wir noch an der Kopie. Es war nicht einmal Zeit gewesen, den Film vorher der Zensur vorzuführen - eine ganz ungewöhnliche Situation, da keine unzensierten Filme öffentlich vorgeführt werden durften. Außer meinen Mitarbeitern hatte niemand den Film vor der Uraufführung gesehen. So wußte ich auch nicht, wie der Film aufgenommen
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