Memoiren 1902 - 1945
Vorstellung von dieser Arbeit besitzt, sind solche Fragen verständlich. Aber was für ein stilloser, disharmonischer Film käme dabei heraus! Wie sähe ein Haus aus, dessen Architekten sich die Aufgabe teilen: einer baut eine Fassade, ein anderer gestaltet das Treppenhaus, ein dritter die Innenräume, ein vierter das Dach. Ein Monstrum wäre das Ergebnis solchen Plans.
Für den Olympiafilm gab es keinen Plan, konnte es keinen geben. Die Ereignisse waren im voraus nicht berechenbar. Niemand konnte wissen, in welchem der vielen Zwischenläufe die Weltrekorde errungen würden, und ob es den Kameramännern gelänge, sie auch einzufangen. Die Gestaltung eines Dokumentarfilms erfolgt erst im Schneideraum. Was heißt Gestaltung? Zunächst muß der architektonische Aufbau festgelegt werden: Womit beginnt der Film, wie endet er, wo liegen die Höhepunkt, wo die größten Spannungsmomente und die weniger dramatischen Ereignisse. Entscheidend ist auch die Länge der Bilder, die man einschneidet, sie können kurz oder sehr lang sein - dies bestimmt den Rhythmus des Films. Ebenso wichtig ist es auch, wie eine Bewegung die andere ablöst - vergleichbar dem Vorgang des Komponierens - ebenso intuitiv.
Um so arbeiten zu können, muß man gegen die Außenwelt möglichst abgeschirmt sein. Deshalb hielten meine Mitarbeiter jede Ablenkung von mir fern, kein noch so wichtiger Telefonanruf wurde an mich weitergeleitet, selbst für meine Eltern und Freunde war ich nicht zu sprechen. Ich lebte in völliger Isolation. Das war notwendig, um mich ganz auf den Schnitt konzentrieren zu können.
Unter meinen Mitarbeitern befanden sich auch zwei junge Frauen, Film-Kleberinnen, ein Beruf, den die moderne Technik durch Klebepressen ersetzt, was ein viel schnelleres Arbeiten ermöglicht. Außerdem war mit uns noch ein junger Mann im Schneideraum, der jedes Stückchen Film, das ich abschnitt, zu beschriften und abzulegen hatte. Heute kann man durch Klebepressen ohne Bildverlust schneiden, damals kostete jeder Schnitt ein Bild, das durch Schwarzfelder ersetzt werden mußte. Aber die Technik war nicht das Problem - es lag in der Gestaltung, die mir viel Kopfzerbrechen bereitete.
Gewiß wäre es verlockend gewesen, aus der Fülle von Bildern und Bewegungen eine Bildkomposition zu schaffen, die ohne Rücksicht auf den sportlichen Wert zu einem sinfonischen Bewegungsrausch geworden wäre. Ich hatte mich aber für die sportliche Form entschieden. Lediglich bei Sportarten, bei denen die kämpferischen Elemente nicht so sichtbar werden, wie beim Turnen, Segeln, Kunst- oder Turmspringen, habe ich diese Teile nach ästhetischen und rhythmischen Gesetzen zusammengefügt.
Auch der Prolog konnte nur nach diesen Gesichtspunkten geschnitten werden. An dieser Arbeit, mit der ich begann, wäre ich fast gescheitert, so schwierig war der Schnitt gerade dieses Komplexes. Über zwei Monate hat es mich gekostet. Der Prolog hatte keine Handlung, und bei den sich ähnelnden Bildern durfte keine Langeweile aufkommen. Das war nur dadurch zu erreichen, daß jede Aufnahme eine Steigerung der vorhergehenden war. Oft war ich so verzweifelt, daß ich alles hinwerfen und sogar auf einen Teil dieses Beginns verzichten wollte. Die Suche nach einer mich befriedigenden Lösung verfolgte mich auch in schlaflosen Nächten. Immer wieder schnitt ich die Bilder um, versuchte neue Kombinationen, nahm Aufnahmen heraus und setzte andere hinein, solange bis mir eines Tages endlich diese Sequenzen in der Vorführung gefielen.
Danach ging es flüssiger voran. Erst hier erlebte ich die Olympischen Wettkämpfe und wurde von ihnen so gefesselt, daß mir das Schneiden immer mehr Freude machte. Meist konnte ich mich erst
lange nach Mitternacht davon trennen. Auch meine Mitarbeiter haben monatelang ohne Pause - auch an Wochenenden und Feiertagen - diese Zeit mit mir durchgestanden. Die Arbeit hatte uns alle in ihren Bann gezogen. Ohne diesen Gemeinschaftsgeist wäre der Olympiafilm nie zu dem geworden, wie er in seiner endgültigen Gestaltung gezeigt werden konnte.
«Der gefallene Engel des III. Reiches«
E s muß im Mai oder Juni 1937 gewesen sein, als Waldi Traut leise in den Schneideraum hereinkam und mir etwas ins Ohr flüsterte. Da ich gerade konzentriert einen Schnitt ausprobierte, hatte ich nicht verstanden, was er sagte. Ich entledigte mich der Filmstreifen, die um meinen Hals hingen, und ging mit ihm hinaus. Es mußte wohl etwas Wichtiges sein, denn zum ersten
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