Memoiren 1902 - 1945
als Tänzerin ein Erlebnis.
Zu dieser Zeit verfolgte mich ein böser Traum. Eine telepathische Angstvision rief mir die Schrecken des Krieges wieder ins Bewußtsein. Ich sah surrealistische Bilder aus Schnee, Eis und Menschenkörpern, die auseinanderflossen und sich wie in einem Puzzlespiel wieder zusammensetzten. Ich sah ein Meer von Kreuzen auf weißen Friedhöfen und Totenmasken, von Eisschichten bedeckt. Die Bilder wurden unscharf und wieder scharf, mal waren sie nah, dann wieder fern, wie aus einem trudelnden Flugzeug aufgenommen - dann glaubte ich, Schreie zu hören - ein schrecklicher Traum. Stunden nach meinem Erwachen meldete der Rundfunk, der deutsche Vormarsch in Rußland sei durch einen sibirischen Kälteinbruch zum Stehen gekommen, das habe große Opfer an Menschen gekostet. Bei diesen Nachrichten wurde mir unheimlich zumute. Zwischen meinem Traum und der Tragödie in Rußland bestand ohne Zweifel eine mediale Verbindung. Wenn ich auch schon früher übersinnliche Erlebnisse hatte, so habe ich diese Schreckensvision meines Traums nie mehr vergessen können.
Als Presse und Rundfunk bekanntgaben, Hitler habe einige Generäle ihrer Stellung enthoben, sich selbst zum Oberbefehlshaber des Heeres ernannt und den Vereinigten Staaten den Krieg erklärt, glaubte ich nicht mehr an einen Sieg. Es war mehr geschehen als der Kälteeinbruch, der für das in Rußland kämpfende Heer unvorstellbare Leiden bedeutete. Das Vertrauen, das die Wehrmacht Hitler als siegrei
chem Feldherrn in so tiefer Überzeugung entgegengebracht hatte, war zerbrochen. Sein Befehl, die Front vor Moskau trotz der ungeheuren Verluste an Menschen und Material in dieser wahnsinnigen Kälte zu halten, erzeugte bei einigen Generälen und vielen Soldaten Widerspruch und Mißtrauen. So könnte der Kälteeinbruch vom 5. Dezember 1941 in Rußland indirekt der Auslöser der folgenden Katastrophen gewesen sein.
Das Jahr 1942
I m Dezember überraschte mich Peter mit seinem Besuch. Sein Rheuma war ausgeheilt, und nach der Entlassung aus dem Feldlazarett hatte ihn sein Kommandeur beauftragt, einige wichtige Kurierdienste in Deutschland zu übernehmen. Seine Abberufung an die Front wurde immer wieder verschoben. So konnten wir einige Wochen zusammen verbringen und, was mich sehr glücklich machte, zum ersten Mal verlebten wir diese Zeit ohne Szenen und Streitigkeiten. Um so schwerer fiel uns dieses Mal der Abschied - denn Peter mußte an die Eismeerfront zurück. Wir konnten uns nicht trennen. Immer wieder riß Peter sich los, kam zurück, um mich noch fester in die Arme zu schließen, und lief schließlich, ohne sich noch einmal umzuwenden, aus dem Haus.
Nach drei Tagen war er wieder da. Was war geschehen?
«Die Ostsee ist vereist», sagte er, «die Schiffe stecken fest. Wir müssen warten, bis Eisrinnen eine Ausfahrt möglich machen.» Die schmerzliche Abschiedszeremonie wiederholte sich einige Male. Beim letzten Abschied - nach meinem Tagebuch war es der 14. Januar 1941 - waren wir beide mit den Nerven ziemlich am Ende. Peter wollte mich, ehe die Schiffe ausliefen, noch einmal aus Saßnitz anrufen.
Ich wartete vergebens. Kein Anruf - kein Telegramm - kein Brief. Ich wartete zwei Tage - drei Tage - vier Tage. Ich wurde unruhig und konnte nicht mehr schlafen. Als ich nach neun Tagen noch immer ohne Nachricht war, drehte ich durch. Ich fürchtete, daß Peter nicht mehr am Leben war, das Schiff vielleicht versenkt wurde oder auf eine Mine gelaufen sei. Bisher war es Peter auch während schwerster Kämpfe und aus entferntesten Gegenden immer gelungen, Nachrichten an mich weiterleiten zu lassen oder mich durch Sonderkuriere über seinen Aufenthalt zu verständigen.
In meiner Verzweiflung versuchte ich von der Wehrmachtsdienststelle Näheres über den Verbleib der Schiffe zu erfahren - ohne Erfolg.
Dann erkundigte ich mich bei den Gebirgsjägern in Mittenwald. Nach mehreren Telefongesprächen erfuhr ich von einem Offizier, die Schiffe seien immer noch nicht ausgelaufen und lägen noch im Hafen.
Das konnte ich nicht fassen. Wo war Peter? Ich glaubte, den Verstand zu verlieren. Da erhielt ich einen Anruf, es war ein Bekannter von Peter.
«Ich hörte», sagte er, «Sie möchten erfahren, wo Peter Jacob sich aufhält.»
«Ja», sagte ich und hielt den Atem an.
«Vor wenigen Tagen war ich mit ihm zusammen - wir sprachen auch über Sie.»
«Sie waren mit ihm zusammen?» stammelte ich.
«Ja», sagte
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