Memoiren 1902 - 1945
keiner von uns den Versuch, seinem Schicksal zu entfliehen. Vor allem bangte ich um das Leben meiner Mutter. Sie war noch immer nicht zu bewegen, ihr Haus in Zernsdorf, 40 Kilometer östlich von Berlin gelegen, zu verlassen. Ebenso war ich in ständiger Sorge um meinen Mann, der bisher alle Kämpfe überlebt hatte. Die meisten seiner Kameraden waren gefallen.
Zum Glück lag seine Einheit nicht mehr am Eismeer, sondern an der italienischen Front, aber meine Hoffnung, die Kämpfe würden dort weniger hart sein, erwiesen sich als falsch. Peter schrieb: «Die Straßen sind tief verschlammt, was den Nachschub sehr erschwert, der Feind ist uns an Menschen und Material weit überlegen. Seit Tagen kommen wir kaum noch zum Schlafen. Auch mein neuer Kompaniechef ist gefallen. Die Amerikaner kämpfen mit seltener Zähigkeit, man muß ihnen viel Tapferkeit zugestehen. Schlimm sind die ständigen feindlichen Luftangriffe, wodurch wir hohe Verluste haben.»
Auch ich erlebte nun zum ersten Mal Tieffliegerangriffe auf der Fahrt nach Berlin, wo ich, wegen der Auseinandersetzung mit meiner Schwägerin, einige Tage zu tun hatte. Zweimal kam Alarm, der Zug hielt, und wir mußten uns alle im Freien auf die Erde legen. Einige Frauen und Kinder wurden verwundet. Sanitäter trugen sie weg.
In der ersten Nacht, die ich in Berlin Anfang November 1944 im « Adlon» verbrachte - in meinem Haus waren Freunde einquartiert, erlebte ich einen schweren Angriff. Im Luftschutzkeller trafen verschiedene prominente Künstler und Politiker aufeinander, darunter Rudolf Diels, der den Reichstagsbrand diagnostiziert hatte und damals für meine Sicherheit sorgte. Seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Göring hatte ihn als Regierungspräsidenten nach Köln, später nach Hannover versetzt. In dieser Bombennacht erfuhr ich von seiner Verhaftung nach dem 20. Juli. Aber Göring, der ihn sehr schätzte, bekam ihn wieder frei.
Am nächsten Morgen bot Berlin einen trostlosen Anblick. Die Menschen kamen zu Fuß von weither zu ihren Arbeitsplätzen. Erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit und Disziplin sie ihre Tätigkeit ausübten.
Ich hatte bei meinem Anwalt, Dr. Heyl, in Angelegenheit der Kinder meines Bruders zu tun. Es war das letzte Mal, daß ich vor dem Ende des Krieges durch die zerstörten Straßen meiner Heimatstadt ging.
Die Rückfahrt nach Kitzbühel wurde ein Martyrium. Der Zug war von Soldaten und Flüchtlingen überfüllt. Hoffnungslos, einen Sitzplatz zu erhalten, fast die ganze Strecke stand ich eingekeilt zwischen Menschen. Dabei überfielen mich meine Blasenkoliken mit solcher Heftigkeit, daß mir das Blut an den Beinen herunterlief. Ein Soldat, der das bemerkte, stellte mir seinen Stahlhelm zwischen die Füße. Eine schreckliche Situation - ich krümmte mich vor Schmerzen. Ab München bekam ich einen Sitzplatz und verfiel in einen totenähnlichen Schlaf.
Wieder mußte die Arbeit wegen meiner nervlichen Verfassung unterbrochen werden. Es ging nur noch um den Feinschnitt und die Synchronisation. Von Peter hatte ich seit längerer Zeit keine Nachricht mehr erhalten. Tagelang versuchte ich, eine telefonische Verbindung mit dem Hauptquartier des Generalfeldmarschalls Kesselring zu bekommen, dem deutschen Oberbefehlshaber in Italien. Schließlich erreichte ich dort einen Offizier, den ich um Erkundigungen über Major Peter Jacob bat. Nach wenigen Tagen bekam ich die Nachricht, P. J. befinde sich nicht mehr auf seinem Gefechtsstand, wahrscheinlich liege er irgendwo in Italien in einem Lazarett.
Da beschloß ich, meinen Mann zu suchen. Im November 1944 traf ich in Meran ein. Es gelang mir, an einen Verbindungsoffizier heranzukommen, der bereit war, mir bei der sinnlos erscheinenden Suche behilflich zu sein. Nach erfolglosen Telefongesprächen erlaubte er mir, mit einer Nachschubkolonne Richtung Front zu fahren. Ich weiß nicht mehr, wo ich überall war, ich erinnere mich nur, daß es eine abenteuerliche Reise wurde. Oft warfen wir uns wegen Tieffliegerangriffen in Erdgräben, ich war von oben bis unten verdreckt, und nach etwa einer Woche ergebnislosen Suchens kam ich nach Meran zurück. Dort entdeckte ich meinen Mann in einem Feldlazarett. Er war eingepackt und konnte sich kaum bewegen, zum Glück hatte er keine Schußverletzungen, sondern nur starkes Rheuma noch von der Eismeerfront, das alle Gelenke erfaßt hatte.
Peter war vor Überraschung sprachlos, er fand es jedoch leichtsinnig, daß ich
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