Memoiren 1902 - 1945
selbst da. Ich spürte es die ganze Zeit, daß ich nicht die Kraft haben würde, dieser Unverfrorenheit Widerstand entgegenzusetzen. Ich war ihm auf rätselhafte Weise verfallen. Er strich mir übers Haar und sagte: «Dein Brief hat mich erschüttert, verzeih. Ich wußte das doch alles nicht, du bist wunderbar.»
Er blieb einen Tag und eine Nacht, er war zärtlicher geworden, und ich fand ihn irgendwie verändert. Seine Augen, vor allem aber seine Stimme hypnotisierten mich, aber körperlich konnte ich nichts für ihn empfinden.
Schon nach zwei Wochen kam er wieder und dann ein drittes Mal. Inzwischen behandelte er mich, als ob ich sein Eigentum geworden wäre, während ich trotz meiner Hörigkeit Fluchtgedanken hatte.
Tanz und Malerei
M ein Tanzstudium in Dresden hatte ich aufgegeben und setzte in Berlin meinen Unterricht, weiter bei der Eduardowa und Jutta Klamt, intensiver denn je fort, der Wirklichkeit fast entrückt. Ich geriet in eine starke schöpferische Phase, in der zwei meiner bekanntesten Tänze entstanden. «Die Unvollendete» von Schubert und «Der Tanz an das Meer» nach der Fünften Symphonie von Beethoven. Ich versäumte keinen Abend, wenn Niddy Impekoven, Mary Wigman oder Valesca Gert auftraten. Sie waren für mich Göttinnen, unerreichbare Wesen. Am stärksten beeindruckte mich Harald Kreutzberg - er war ein Genie, ein Zauberer. Seine Ausdruckskraft fand ich unglaublich, seine Tänze phantastisch. Die Zuschauer waren von ihm so hingerissen, daß niemand den Saal verließ, bevor Kreutzberg nicht eine Anzahl Zugaben getanzt hatte.
Auch die Malerei spielte für mich in dieser Zeit wieder eine besondere Rolle. Meine Freundschaft mit Jaeckel und anderen Künstlern verhalf mir zu einem besseren Verständnis für Musik und moderne Malerei. Ich denke da an Kandinsky, Pechstein, Nolde und andere. Besonders fesselten mich die Arbeiten von Franz Marc. Sein «Turm der blauen Pferde» wurde eines meiner Lieblingsbilder.
Sooft ich konnte, besuchte ich das Kronprinz-Palais, dieses herrliche Museum, überreich an Schöpfungen zeitgenössischer Maler und Bildhauer. Ein regelrechtes Hobby machte ich mir daraus, in jedem Saal ein Bild auszuwählen, das mir am besten gefiel und das ich als «meines» betrachtete. Unter den von mir bevorzugten Gemälden befanden sich Impressionisten wie Manet und Monet, aber auch Cezanne, Degas und Klee. Einmal hat mich dort ein Bild auf sehr ungewöhnliche Weise gefesselt. Ein Blumenbild, das in seiner Stille nicht sonderlich auffiel, mich aber merkwürdigerweise nicht mehr losließ und in eine solche Erregung versetzte, daß ich beinahe in Tränen ausbrach. Ich habe oft darüber nachgedacht, warum gerade dieses Bild so stark auf mich gewirkt hat. Es ging nicht um das Motiv, nicht um die Blumen, sondern um den Maler überhaupt - Vincent van Gogh. Es war das erste Bild, das ich von diesem Künstler sah. Seit diesem Erlebnis habe ich mich viel mit van Gogh beschäftigt, mit seinem Leben und seinen Bildern. Er erschien mir von allen Malern der leidenschaftlichste zu sein, ein Künstler, der sich völlig verzehrte. Diese Leidenschaft muß, als ich sein Bild betrachtete, wie ein Funken auf mich übergesprungen sein. So stark kam in seinen Bildern Genie und Wahnsinn zum Ausdruck.
Noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs schrieb ich ein Filmmanuskript über sein Leben. Dieses sehr ungewöhnliche, tragische Leben war ein Film, den ich brennend gern gemacht hätte, und für dessen Gestaltung ich Intuitionen hatte, die filmisch neu waren, den ich aber, wie so viele meiner Träume, nicht mehr verwirklichen konnte.
Mein erster Tanzabend
I ch trainierte härter denn je, mehrere Stunden am Tag. Todmüde schlief ich abends ein, und es war mir eine Qual, am frühen Morgen aufzustehen. Meine geliebte Mutter verwöhnte mich sehr. Sie zog mir im Bett Strümpfe und Schuhe an, und ich mußte dann rennen, um den Zug zu erreichen.
Dann kam der Tag, an dem ich die Probe zu bestehen hatte. Am
23. Oktober 1923 stand ich in München in der Tonhalle auf der Bühne - in größter Spannung wartete ich auf den Einsatz der Musik. Für einen einzigen US-Dollar, die Inflation hatte eine abenteuerliche Höhe erreicht, hatte Harry Sokal, der nie aufgehört hatte, mit mir in Verbindung zu bleiben, den Saal gemietet und die für den Auftritt nötige Werbung bezahlt. Er wollte, daß ich vor meinem ersten Tanzabend in Berlin, der vier Tage später folgen sollte und von meinem Vater
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