Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
hatten, hätte der Schock für mich überwältigend sein müssen; offenbar ahnten sie etwas davon. Eines Nachmittags, als ich mich allein im Arbeitszimmer befand, setzte sich meine Mutter mir gegenüber; sie zögerte und errötete: «Es gibt da gewisse Dinge, die du wissen musst», sagte sie. Ich errötete ebenfalls: «Ich weiß sie», gab ich eilig zurück. Sie war nicht so neugierig, sich nach meinen Quellen zu erkundigen; zu unser beider Erleichterung endete dieses Gespräch hiermit. Einige Tage später rief sie mich in ihr Zimmer; etwas befangen fragte sie mich, wie es mit der Religion bei mir sei. Mein Herz begann heftig zu klopfen: «Um die Wahrheit zu sagen», erwiderte ich, «glaube ich schon seit einiger Zeit nicht mehr.» Ihre Züge verfielen. «Meine arme Kleine!», sagte sie. Sie schloss die Tür, damit meine Schwester die Fortsetzung unserer Unterhaltung nicht hörte; mit flehender Stimme malte sie mir ein Dasein ohne Gott aus, dann verstummte sie mit einer Gebärde der Ohnmacht und mit Tränen in den Augen. Es tat mir leid, dass ich ihr Kummer bereitet hatte, aber ich fühlte mich sehr erleichtert. Endlich würde ich mit offenem Visier leben können.
Eines Abends, als ich aus dem S-Autobus stieg, sah ich Jacques’ Auto vor dem Hause stehen: Seit einigen Monaten besaß er einen kleinen Wagen. Ich stürmte die Treppe hinauf. Jacques besuchte uns jetzt weniger oft als früher; meine Eltern verziehen ihm seine literarischen Neigungen nicht, er aber fühlte sich zweifellos durch ihren Spott gereizt. Mein Vater behielt das Monopol des Talents den Abgöttern seiner Jugend vor; seiner Meinung nach erklärte sich der Erfolg der ausländischen und modernen Autoren einzig durch den Snobismus. Er stellte Alphonse Daudet himmelhoch über Dickens; sprach jemand zu ihm vom russischen Roman, so zuckte er die Achseln. Ein Schüler des Conservatoire, der mit ihm ein Stück von Monsieur Jeannot mit dem Titel
Le Retour à la terre
probte, erklärte eines Abends in leidenschaftlichem Ton: «Vor Ibsen kann man nur sehr tief den Hut abnehmen!» Mein Vater lachte schallend auf: «Nun schön», sagte er, «ich jedenfalls nehme ihn nicht vor ihm ab!» Ob englisch, slawisch oder nordisch, alle Werke von jenseits der Grenze kamen ihm todlangweilig, nebelhaft und kindisch vor. Was die avantgardistischen Schriftsteller und Maler betraf, so spekulierten sie zynisch auf die menschliche Dummheit. Mein Vater schätzte die Natürlichkeit gewisser junger Schauspieler: Gaby Morlay, Fresnay, Blanchard, Charles Boyer. Aber die Bestrebungen von Copeau, von Dullin, von Jouvet hielt er für müßig, und er verabscheute Leute à la Pitoëff, diese ‹Metöken›. Diejenigen, die seine Meinung nicht teilten, hielt er für schlechte Franzosen. Daher vermied auch Jacques solche Diskussionen; wortreich und zu Scherzen aufgelegt, plauderte er mit meinem Vater, machte meiner Mutter auf heitere Weise den Hof und hütete sich, von irgendetwas Ernstlichem zu reden. Ich bedauerte es, denn wenn er sich je einmal aussprach, sagte er Dinge, die mir sehr zu denken gaben und mich interessierten; ich fand ihn gar nicht mehr anmaßend; über Welt und Menschen, Malerei und Literatur wusste er sehr viel mehr als ich. Ich hätte gern gesehen, er hätte mich von seiner Erfahrung profitieren lassen. An diesem Abend behandelte er mich wie gewöhnlich als ‹kleine Cousine›; aber in seiner Stimme, seinem Lächeln lag so viel Nettigkeit, dass ich mich ganz glücklich fühlte, einfach weil ich ihn wiedersah. Als ich mein Haupt auf mein Kopfkissen bettete, kamen mir Tränen in die Augen. ‹Ich weine, also liebe ich›, sagte ich entzückt zu mir selbst. Ich war siebzehn Jahre alt: gerade das richtige Alter.
Ich glaubte eine Möglichkeit zu sehen, Jacques’ Achtung zu erzwingen. Er kannte Robert Garric, der im Institut Sainte-Marie die Vorlesungen über französische Literatur hielt. Garric hatte die Bewegung der ‹Équipes sociales› gegründet, die darauf ausging, in den unteren Volksschichten Bildung zu verbreiten; er stand dieser Bewegung auch weiter vor; Jacques war einer seiner Mitarbeiter und bewunderte ihn. Wenn es mir gelang, mich bei meinem neuen Lehrer auszuzeichnen, wenn er sich bei Jacques vorteilhaft über meine Leistungen äußerte, würde mich dieser vielleicht nicht mehr als ein unbedeutendes kleines Schulmädchen betrachten. Garric war etwas über dreißig Jahre alt; blond, mit leicht gelichtetem Haar, sprach er mit einer beschwingten Stimme, die
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