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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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festzuhalten, jedoch unter der Bedingung, dass man das Relative nicht mit dem Absoluten, den ungeordneten Rückzug nicht mit Sieg verwechselte. Ich beurteilte die anderen nach diesen Richtlinien; für mich existierten ausschließlich die Menschen, die geradeaus blickten, ohne sich selbst oder andere zu betrügen, denn dadurch wird alles unterhöhlt; die Übrigen waren für mich nicht da. Von vornherein hielt ich Minister, Mitglieder der Akademien, ordengeschmückte Herren, alle Tagesgrößen für Barbaren. Ein Schriftsteller war es sich schuldig, zu den Verfemten zu gehören; jeder Erfolg gab Anlass zum Verdacht, und ich fragte mich sogar, ob nicht das bloße Schreiben bereits ein Abfall sei: Einzig das Schweigen von Monsieur Teste schien mir in würdiger Weise die absolute menschliche Verzweiflung auszudrücken. So also, im Namen der Abwesenheit Gottes, ließ ich das Ideal des Verzichts auf die Welt wiederaufleben, das mir einst mein Dasein hatte nahelegen wollen. Aber diese Askese war nun nicht mehr der Weg zu irgendeinem Heil. Die freimütigste Haltung war zweifellos die, dass man seinem Leben selbst ein Ende bereitete; ich stimmte dem zu und bewunderte Selbstmorde aus metaphysischer Einsicht; jedoch lehnte ich für meine Person eine solche Ausflucht ab: Ich hatte zu große Furcht vor dem Tode. Wenn ich allein im Hause war, sträubte ich mich gegen ihn noch so wie damals, als ich fünfzehn Jahre alt war; zitternd, mit feuchten Händen schrie ich wie eine Wahnsinnige: «Ich will nicht sterben!»
    Schon aber wohnte ja der Tod in mir. Da ich mit keinem Unternehmen verbunden war, zerfiel die Zeit in Augenblicke, die in unendlicher Folge ihr Nichts bekundeten: Ich konnte mich nicht in diesen ‹vielfältigen partiellen Tod› ergeben. Ich schrieb Seiten aus Schopenhauer, aus Barrès, Verse von Madame de Noailles ab. Ich fand es umso schrecklicher, sterben zu müssen, als ich keine Gründe zum Leben sah.
    Dennoch liebte ich das Leben mit aller Leidenschaft. Wenig genügte schon, um mein Selbstvertrauen wiederherzustellen: ein Brief eines meiner Schüler aus Berck, das Lächeln einer Angestellten aus Belleville, die vertrauensvollen Mitteilungen einer Kameradin aus Neuilly, ein Blick von Zaza, ein Dank, ein liebevolles Wort. Sobald ich mich nützlich oder geliebt fühlte, hellte der Horizont sich auf, und von neuem sprach ich mir selbst wie eine Verheißung vor: ‹Geliebt, bewundert werden, notwendig sein, jemand sein!› Ich wurde immer sicherer, dass ich ‹eine Menge Dinge zu sagen› habe, und ich würde sie sagen. An dem Tage, an dem ich neunzehn Jahre alt wurde, schrieb ich im Lesesaal der Sorbonne einen langen Dialog mit zwei einander ablösenden Stimmen, die beide die meinen waren: Die eine kündete die Eitelkeit aller Dinge, den Überdruss und die Müdigkeit; die andere sagte aus, es sei schön, da zu sein, und sei es auch in der Unfruchtbarkeit. Von einem Tag zum anderen, von einer Stunde zur anderen wechselte ich zwischen Niedergeschlagenheit und stolzem Selbstgefühl. Aber was den ganzen Herbst und Winter über in mir vorherrschte, war die Angst, mich eines Tages wiederum ‹vom Leben besiegt› zu sehen.
    Dieses Schwanken, dieser Zweifel brachten mich halb um den Verstand; Langeweile erstickte mich und schuf eine Leere in meinem Herzen. Wenn ich mich dem Unglück überließ, so tat ich es mit der ganzen Heftigkeit meiner Jugend, meiner Gesundheit, und der seelische Schmerz konnte mich so wild durchtoben wie ein physisches Leiden. Mit einem vom Gehen hungrig gewordenen Magen lief ich in eine Konditorei, aß dort eine Brioche und zitierte mir ironisch das Wort von Heine, dass man, ganz gleich, was für Tränen man weint, sich zum Schluss doch immer schnäuzen muss. An den Seinequais lullte ich mich schluchzend mit Laforgues Versen ein:
    O bien-aimé, il n’est plus temps, mon cœur se crève,
    Et trop pour t’en vouloir, mais j’ai tant sangloté …
    Ich spürte gern, dass mir die Augen brannten. Aber zuweilen verfiel ich in äußerste Wehrlosigkeit. Ich flüchtete mich in das Seitenschiff einer Kirche, um in Frieden weinen zu können; ich saß da, vernichtet, das Gesicht in den Händen verborgen, und quälendes Dunkel erstickte mich.
     
    Jacques kam Ende Januar nach Paris zurück. Gleich am Tage nach seiner Heimkehr schellte er bei uns. Zu meinem neunzehnten Geburtstag hatten meine Eltern von mir Fotografien machen lassen; er bat mich um eine davon. Niemals hatte seine Stimme einen so zärtlich

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