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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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sprachen über die Bars, die sie besuchten, Leute, die sie dort regelmäßig trafen, sie planten Unternehmungen für die nächste Woche. Ich fühlte mich mehr als überflüssig: Ich hatte kein Geld, ich ging abends nicht aus, ich war nur eine kleine Studentin, die nicht in der Lage war, an Jacques’ wirklichem Dasein teilzunehmen. Im Übrigen war er schlecht gelaunt; er wurde ironisch, fast aggressiv; ich zog mich sehr bald zurück, er aber verabschiedete mich mit sichtlicher Befriedigung. Zorn erfasste mich, ich hasste ihn. Was war an ihm schon Außerordentliches? Es gab eine Menge anderer, die ebenso viel wert waren wie er. Ich hatte mich sehr getäuscht, als ich eine Art von ‹Grand Meaulnes› in ihm sah. Er war unbeständig, egoistisch und dachte nur daran, sich zu amüsieren. Wütend schritt ich die großen Boulevards entlang und nahm mir vor, mein Leben von dem seinen loszulösen. Am folgenden Tage war ich zwar etwas milder gestimmt, aber doch entschlossen, auf längere Zeit keinen Fuß in seine Wohnung zu setzen. Ich hielt Wort und sah ihn die nächsten sechs Wochen nicht wieder.
     
    Die Philosophie hatte mir weder den Himmel eröffnet noch mich fester auf der Erde verankert; dennoch begann ich im Januar, nachdem die ersten Schwierigkeiten überwunden waren, mich ernsthaft für sie zu interessieren. Ich las Bergson, Platon, Schopenhauer, Leibniz, Hamelin und mit großer Hingabe Nietzsche. Eine Menge Probleme beschäftigten mich leidenschaftlich: der Wert der Naturwissenschaft, das Leben, die Materie, die Zeit, die Kunst. Ich neigte zu keiner bestimmten Doktrin; immerhin wusste ich aber, dass ich Aristoteles, Thomas von Aquino, Maritain sowie allen Empirismen und Materialismen ablehnend gegenüberstand. Alles in allem neigte ich zum kritischen Idealismus, so wie Brunschvicg ihn uns auseinandersetzte, obwohl er mich in vielen Punkten unbefriedigt ließ. Ich fand auch wieder Geschmack an der Literatur. Am Boulevard Saint-Michel stand die Buchhandlung Picart den Studenten großzügig offen: Ich blätterte in avantgardistischen Revuen, die damals wie die Fliegen das Licht der Welt erblickten und auch wieder starben; ich las Breton und Aragon: Der Surrealismus nahm mich für sich ein. Die Unruhe war mir auf die Dauer eher fade geworden; ich zog jetzt die äußersten Formen der reinen Verneinung vor. Zerstörung der Kunst, der Moral, der Sprache, systematische Auflösung, Verzweiflung, die bis zum Selbstmord ging: Diese Exzesse berauschten mich.
    Ich hatte Lust, von diesen Dingen zu sprechen; ich hatte Lust, von allen Dingen mit Leuten zu sprechen, die, anders als Jacques, ihre Sätze zu Ende führten. Ich trachtete begierig, Leute kennenzulernen. In Sainte-Marie suchte ich das Vertrauen meiner Gefährtinnen zu gewinnen, aber entschieden gab es dort keine, die mich interessierte. Sehr viel mehr Vergnügen fand ich daran, in Belleville mit Suzanne Boigue zu sprechen. Sie hatte kastanienbraunes, gerade geschnittenes Haar, eine breite Stirn, sehr helle blaue Augen und im Ganzen etwas Unerschrockenes. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt als Leiterin des sozialen Hilfsbüros, von dem ich schon gesprochen habe; ihr Alter, ihre Selbständigkeit, die Menge der Verantwortung, die auf ihr lastete, ihre Autorität verschafften ihr einen gewissen Einfluss. Sie war gläubig, deutete mir aber an, dass ihre Beziehungen zu Gott nicht ganz reibungslos seien. In der Literatur hatten wir ungefähr dieselben Neigungen. Mit Befriedigung stellte ich fest, dass auch sie sich über den Wert der ‹Équipes› und der ‹Aktion› im Allgemeinen nicht täuschte. Auch sie, vertraute sie mir an, wolle leben und nicht schlafen: Auch sie hatte die Hoffnung aufgegeben, dass sie auf Erden etwas anderes als Betäubungsmittel finden würde. Da wir beide über Gesundheit und Appetit verfügten, gaben mir unsere Gespräche, weit davon entfernt, mich zu deprimieren, eher wieder neue Kraft. Nachdem ich sie verlassen hatte, überquerte ich mit großen Schritten die Buttes-Chaumont. Sie wünschte wie ich, ihren richtigen Platz in dieser Welt zu finden. Sie ging nach Berck, um dort eine Quasi-Heilige zu treffen, die ihr Leben den ‹Liegenden› weihte. Bei ihrer Rückkehr erklärte sie mir energisch: «Heiligkeit ist nichts für mich.» Zu Beginn des Frühlings verliebte sie sich von einem Augenblick auf den anderen in einen jungen, frommen Mitarbeiter der ‹Équipes›; sie beschlossen, ein Paar zu werden. Durch die Umstände wurde ihnen eine

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