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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Wartezeit von zwei Jahren auferlegt: Aber wenn man einander liebt, spielt die Zeit keine Rolle, erklärte mir Suzanne Boigue. Sie strahlte. Ich war höchlich erstaunt, als sie mir einige Wochen später ankündigte, sie habe mit ihrem Verlobten gebrochen. Es hatte zwischen ihnen eine zu heftige physische Anziehung bestanden, und der junge Mann hatte sich über die Intensität der Küsse, die sie sich gaben, entsetzt. Er hatte Suzanne darum gebeten, sie wollten sich ihrer Keuschheit durch vorläufige Trennung versichern und lieber aus der Entfernung aufeinander warten. Da hatte sie vorgezogen, einen Schlussstrich zu ziehen. Ich fand diese Geschichte, zu der ich niemals so recht den Schlüssel erhielt, ganz einfach absurd. Doch Suzannes Enttäuschung rührte mich tief, und ihr Bemühen, darüber hinwegzukommen, hatte für mich etwas Pathetisches.
    Die Studenten beiderlei Geschlechts, mit denen ich in der Sorbonne in Berührung kam, schienen mir recht unbedeutend zu sein: Sie zogen in Banden umher, lachten übermäßig laut, interessierten sich für nichts und waren mit dieser Indifferenz ganz zufrieden. Indessen fiel mir in den Vorlesungen über Geschichte der Philosophie ein junger Mann mit blauen, ernsten Augen auf, der viel älter war als ich; er war schwarz gekleidet, trug einen schwarzen Filzhut und sprach mit niemandem außer mit einer kleinen Dunklen, der er sehr oft zulächelte. Eines Tages übersetzte er in der Bibliothek Briefe von Engels, als an seinem Tisch ein paar Studenten zu randalieren begannen; seine Augen funkelten, und in schroffem Tone verlangte er Ruhe mit so viel Autorität, dass ihm sofort Folge geleistet wurde. Ich war stark beeindruckt; das ist wirklich ‹jemand›, sagte ich mir. Es gelang mir, mit ihm ins Gespräch zu kommen, und in der Folge plauderten wir miteinander, sobald die kleine Dunkle gerade nicht anwesend war. Eines Tages ging ich mit ihm ein Stück zusammen den Boulevard Saint-Michel entlang: Am Abend fragte ich meine Schwester, ob sie mein Verhalten auch wohl inkorrekt fände; sie beruhigte mich, und daraufhin tat ich es mehrere Male. Pierre Nodier gehörte zu einer Gruppe ‹Philosophies›, der auch Mohrange, Friedmann, Henri Lefebvre und Politzer angehörten; dank der Unterstützung, die ihnen der Vater des einen von ihnen, ein reicher Bankier, gewährte, hatten sie eine Revue gegründet; aber entrüstet über einen Artikel gegen den Krieg in Marokko, hatte ihr Geldgeber ihnen die Mittel aufgesagt. Kurz darauf war die Zeitschrift unter einem anderen Titel,
L’Esprit
, wiedererstanden. Pierre brachte mir zwei Nummern davon: Es war das erste Mal, dass ich Kontakt mit Intellektuellen der Linken bekam. Indessen fühlte ich mich dort nicht fremd: Ich erkannte die Sprache wieder, an die ich durch die Literatur der Epoche gewöhnt war; auch diese jungen Leute sprachen von Seele, von Heil, von Freude, von Ewigkeit; sie sagten, das Denken solle ‹sinnlich und konkret› sein, aber sie sagten es in abstrakten Wendungen. Ihres Erachtens unterschied die Philosophie sich nicht von der Revolution, auf dieser aber beruhte für sie die einzige Hoffnung der Menschheit; in jener Zeit jedoch war Politzer der Meinung, dass ‹auf der Ebene der Wahrheit der historische Materialismus von der Revolution nicht untrennbar› sei; er glaubte an den Wert der Idee des Idealismus, wofern man sie in ihrer konkreten Totalität erfasste, ohne sich bei dem Studium der Abstraktion aufzuhalten. Sie interessierten sich vor allem für die Wandlungen des Geistes; Wirtschaft und Politik spielten in ihren Augen nur eine beiläufige Rolle. Sie verurteilten den Kapitalismus, weil er im Menschen den ‹Sinn für das Sein› zerstört habe; sie waren der Meinung, dass ‹in Gestalt der Erhebung der Völker Asiens und Afrikas die Geschichte sich in den Dienst der Weisheit stellt›. Friedmann zerpflückte die Ideologie der jungen Bourgeoisie, ihre Neigung zu Unruhe und Bereitsein. Er tat das aber nur, um an ihre Stelle eine Mystik zu setzen. Es ging für ihn darum, den Menschen den ‹ewigen Teil ihrer selbst› zurückzugeben. Sie betrachteten das Leben nicht unter dem Gesichtspunkt des Bedürfnisses oder der Arbeit, sondern machten daraus einen romantischen Wert. ‹Es gibt ein Leben, und unsere Liebe wendet sich ihm zu›, schrieb Friedmann. Politzer definierte dieses Leben in einem Satz, der großes Aufsehen machte: ‹Das triumphierende, brutale Leben des Matrosen, der seine Zigarette an den Gobelins des Kreml

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