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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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indem sie so eilfertig jede Abweichung oder Neuerung verdammte, dem Aufruhr zuvorzukommen wünschte, den in ihr alles Infragestellen des Gewohnten hervorrief; wohl aber fühlte ich deutlich, dass ungewohnte Äußerungen, unvorhergesehene Pläne ihre heitere Seelenruhe trübten. Meine Verantwortung in dieser Hinsicht verdoppelte meine Abhängigkeit.
    So lebten wir, sie und ich, in einer Art von Symbiose, und ohne dass ich sie zu kopieren trachtete, wurde ich doch von ihr geformt. Sie impfte mir Pflichtgefühl sowie Parolen der Selbstlosigkeit und der Sittenstrenge ein. Mein Vater hatte nichts dagegen, sich in den Vordergrund zu lavieren, von Mama aber lernte ich zurückzutreten, meine Worte zu wägen, meine Wünsche im Zaum zu halten, genau das zu sagen und zu tun, was gesagt und getan werden musste. Ich verlangte für mich nichts und wagte mich nur wenig hervor.
    Die Eintracht, die zwischen meinen Eltern bestand, bestärkte mich in der Hochachtung, die ich ihnen entgegenbrachte. Sie erlaubte mir, eine Schwierigkeit zu umgehen, die mich in beträchtliche Verlegenheit hätte bringen können; Papa ging nicht zur Messe, Er lächelte, wenn Tante Marguerite die Wunder von Lourdes kommentierte: er glaubte nicht. Diese Skepsis berührte mich nicht, so sehr fühlte ich mich selbst von der Gegenwart Gottes umhegt; dennoch irrte mein Vater sich nie: Wie sollte man sich erklären, dass er der evidentesten aller Wahrheiten völlig blind gegenüberstand? Wenn man den Dingen ins Auge sah, schien es freilich ein unlösbares Dilemma zu sein. Immerhin fand ich mich, da meine so fromme Mutter sie natürlich zu finden schien, mit Papas Haltung ab. Die Folge war, dass ich mich gewöhnte, das – durch meinen Vater vertretene – Leben des Geistes und mein – durch meine Mutter bestimmtes – seelisches Dasein als zwei völlig heterogene Sphären zu betrachten, zwischen denen es keinen möglichen Austausch gab. Heiligkeit gehörte einer anderen Ordnung an als Geist, und die menschlichen Dinge – Kultur, Politik, Geschäftsleben, Sitten und Bräuche – entstammten nicht der Religion. Auf diese Weise verbannte ich Gott aus der Welt, was meine Weiterentwicklung aufs tiefste beeinflussen sollte.
    Meine Lage in der Familie erinnerte durchaus an die einstige meines Vaters: Wie er seinerzeit zwischen dem unbekümmerten Skeptizismus meines Großvaters und dem bourgeoisen Ernst meiner Großmutter gestanden hatte, kontrastierte in meinem Fall der Individualismus meines Vaters und seine weltlich bestimmte Ethik mit der strengen, traditionalistischen Moral, die meine Mutter mich lehrte. Diese Unausgewogenheit, die mich zur Auflehnung treiben musste, erklärt zum großen Teil, dass eine Intellektuelle aus mir geworden ist.
    Im Augenblick aber fühlte ich mich noch zugleich auf Erden und in himmlischen Bahnen beschützt und geführt. Ich beglückwünschte mich außerdem, nicht rückhaltlos den Erwachsenen ausgeliefert zu sein; ich durchlebte nicht allein meine kindliche Situation; ich hatte eine Gefährtin, meine Schwester, deren Rolle in meinem Dasein beträchtlich wurde, als ich etwa sechs Jahre alt war.
    Man nannte sie Poupette; sie war zweieinhalb Jahre jünger als ich. Es hieß, sie sei Papa ähnlich. Blond, mit blauen Augen, sieht sie auf Kinderfotos aus, als schwämme ihr Blick in immerwährenden Tränen. Ihre Geburt hatte damals enttäuscht, denn die ganze Familie hoffte auf einen Sohn; niemand freilich ließ es sie spüren, aber vielleicht war es doch nicht ohne Bedeutung, dass an ihrer Wiege viel geseufzt worden ist. Es wurde darauf gesehen, dass wir unbedingt gerecht behandelt wurden; wir trugen ganz gleiche Kleider, gingen fast immer zusammen aus, wir führten das gleiche Leben. Mir als der Älteren standen jedoch gewisse Vorteile zu. Ich hatte ein Zimmer, das ich zwar mit Louise teilte, und schlief in einem – kopierten – antiken Bett aus geschnitztem Holz, über dem eine Reproduktion der
Himmelfahrt Mariä
von Murillo hing. Für meine Schwester wurde ein Gitterbett in einem engen Korridor aufgestellt. Als Papa zur Truppe eingezogen war, begleitete ich Mama, sooft sie ihn besuchte. Auf den zweiten Platz verwiesen, musste sich ‹die Kleine› fast überflüssig fühlen. Ich war für meine Eltern ein neues Erlebnis gewesen; meine Schwester hatte weit größere Mühe, sie in Staunen zu setzen oder aus der Fassung zu bringen; mich hatte man noch mit niemand verglichen, sie aber verglich ein jeder mit mir. Die Damen des Cours

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