Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
waren. Ich hatte jetzt den augenscheinlichen Beweis dafür, dass er eines Tages ein philosophisches Werk von Gewicht schreiben würde. Nur vereinfachte er sich die Aufgabe nicht, denn er hatte nicht die Absicht, nach traditionellen Regeln eine theoretische Abhandlung zu verfassen. Er liebte Stendhal ebenso sehr wie Spinoza und weigerte sich, die Philosophie von der Literatur zu trennen. In seinen Augen war Bedingtheit kein abstrakter Begriff, sondern eine wirkliche Dimension der Welt: Man musste alle Hilfsmittel der Kunst aktivieren, um dem Herzen jene geheime ‹Schwäche› spürbar zu machen, die er an Menschen und Dingen bemerkte. Der Versuch war in jener Zeit etwas sehr Ungewöhnliches; es war ganz unmöglich, sich dafür an irgendeiner Mode, irgendeinem Modell zu inspirieren: Sosehr Sartres Denken mich durch seine Reife überrascht hatte, so sehr bestürzte mich die linkische Art, auf die er es auszudrücken versuchte; um es in seiner ganz besonderen Wahrheit darzustellen, nahm er seine Zuflucht zum Mythos.
‹Er l’Arménien›
machte Anleihen bei Göttern und Titanen: In diesem veralteten Gewand verloren seine Theorien ihre Durchschlagskraft. Er war sich über diesen Missgriff klar, machte sich aber nichts daraus; auf alle Fälle hätte kein Erfolg ausgereicht, um sein ungemessenes Vertrauen auf die Zukunft zu begründen. Er wusste, was er tun wollte, und hatte das Leben vor sich: Er würde es schließlich vollbringen. Ich zweifelte nicht einen Augenblick daran: Seine Gesundheit, seine gute Laune galten mir mehr als jeder Beweis. Ganz offenbar verbarg sich hinter seiner Gewissheit ein Entschluss, der so unbedingt war, dass er eines Tages auf irgendeine Art Früchte tragen musste.
Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich geistig von einem anderen beherrscht. Garric und Nodier, die viel älter waren als ich, hatten mir imponiert, aber doch nur von ferne, in unbestimmter Weise, ohne dass ich mich mit ihnen konfrontierte. Mit Sartre aber maß ich mich täglich und ganze Tage hindurch, und in unseren Diskussionen hielt ich ihm nicht die Waage. Im Luxembourggarten setzte ich ihm eines Tages in der Nähe des Medicibrunnens jene pluralistische Moral auseinander, die ich mir zurechtgelegt hatte, um die Leute, die ich liebte, denen ich aber dennoch nicht hätte gleichen mögen, vor mir zu rechtfertigen; er zerpflückte sie mir ganz und gar. Ich legte auf sie Wert, weil sie mir das Recht gab, mein Herz darüber entscheiden zu lassen, was Gut und Böse sei; drei Stunden lang kämpfte ich um sie. Dann musste ich zugeben, dass ich geschlagen war: Im Übrigen hatte ich im Laufe der Debatte bemerkt, dass viele meiner Meinungen nur auf Vorurteilen, auf Unaufrichtigkeit oder Oberflächlichkeit beruhten, dass meine Beweisführungen hinkten und meine Ideen verworren waren. ‹Ich bin dessen, was ich denke, nicht mehr sicher, ja, nicht einmal mehr sicher, überhaupt zu denken›, schrieb ich völlig entwaffnet in mein Heft. Ich brachte meine Eigenliebe dabei nicht ins Spiel, da ich viel eher neugierig als rechthaberisch veranlagt war und lieber lernte als glänzte. Doch immerhin war es nach so vielen Jahren anmaßlicher Einsamkeit eine ernste Erfahrung für mich, zu entdecken, dass ich nicht die Einzige und nicht die Erste war, sondern eine unter anderen, die plötzlich ihren wahren Fähigkeiten unsicher gegenüberstand. Denn Sartre war nicht der Einzige, der mich zur Bescheidenheit zwang: Nizan, Aron, Politzer hatten vor mir einen beträchtlichen Vorsprung. Ich hatte mich auf den ‹Concours› in aller Eile vorbereitet: Ihre geistige Kultur war weit solider unterbaut als die meine, sie waren auf dem Laufenden über eine Menge neuer Dinge, von denen ich nichts wusste, sie waren das Diskutieren gewohnt; vor allem fehlte es mir an Methode und Überblick; das geistige Universum war für mich ein wirrer Haufen, in dem ich mich zurechtzufinden versuchte; ihr eigenes forschendes Bemühen war, wenigstens in großen Zügen, nach einer bestimmten Richtung hin orientiert. Schon wurden zwischen ihnen bedeutsame Abweichungen offenbar: Aron wurde sein Entgegenkommen dem Idealismus eines Brunschvicg gegenüber zum Vorwurf gemacht; alle aber hatten weit radikaler als ich die Folgerungen aus der Nichtexistenz Gottes gezogen und die Philosophie aus dem Himmel auf die Erde zurückgeführt. Was mir gleichfalls imponierte, war, dass sie eine ziemlich genaue Vorstellung von den Büchern hatten, die sie schreiben wollten. Ich hatte mir bis
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