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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Jacques eine Zeitlang von Gnaden seiner Frau, die von dem Vater Riaucourt ein ständiges Monatsgeld erhielt; zwischen den beiden Ehegatten aber wurde das Verhältnis zusehends immer schlechter: Mit seiner Veranlagung zum Nichtstuer, Verschwender, Schürzenjäger, Trunkenbold und Lügner – und wer weiß, was sonst noch – war Jacques ganz zweifellos ein sehr schlechter Ehemann. Odile setzte schließlich eine gerichtliche Trennung durch und wies ihn aus dem Hause. Zwanzig Jahre lang hatte ich ihn nicht gesehen, als ich ihm durch Zufall am Boulevard Saint-Germain begegnete. Mit seinen fünfundvierzig Jahren sah er älter als sechzig aus. Seine Haare waren vollkommen weiß, seine Augen blutunterlaufen, der Missbrauch von Alkohol hatte ihn beinahe blind gemacht; er hatte keinen Blick, kein Lächeln mehr und so wenig Fleisch an sich, dass sein auf die bloße Knochenbildung reduziertes Gesicht Zug für Zug dem des Großvaters Flandin glich. Er verdiente 25 000  Franc im Monat durch Schreibarbeiten in einer Zollstation an der Seine: Laut den Papieren, die er mir zeigte, war er einem Feldhüter gleichgestellt. Er war gekleidet wie ein Clochard, schlief in Absteigehotels, ernährte sich kaum und trank, so viel er bekommen konnte. Kurze Zeit darauf verlor er seine Stelle und stand nun absolut mittellos da. Seine Mutter, sein Bruder warfen ihm, wenn er sie um das Nötigste bat, Würdelosigkeit vor; nur seine Schwester und seine Freunde unterstützten ihn noch. Aber es war nicht leicht, ihm zu helfen; er selbst rührte keinen Finger, um seinerseits etwas für sich zu tun, und war bis auf die Knochen abgemagert. Er starb mit sechsundvierzig Jahren an völliger Entkräftung.
    «Ach! Warum habe ich dich nicht geheiratet!», sagte er zu mir am Tage unserer Zufallsbegegnung, während er mir überschwänglich die Hände drückte. «Wie schade! Meine Mutter hat mir unaufhörlich vorgehalten, auf Ehen zwischen Vetter und Cousine ruhe nun einmal kein Segen!» Er hatte also doch an eine Heirat mit mir gedacht: Wann hatte er wohl seine Meinung geändert? Und weshalb eigentlich? Und weshalb hatte er sich, anstatt auch weiterhin als Junggeselle zu leben, in eine so übertrieben von der Vernunft diktierte Ehe gestürzt? Ich sollte es nie erfahren, vielleicht wusste er es selbst nicht mehr, nachdem sein Hirn so stark vernebelt war; ich machte sogar nicht einmal mehr den Versuch, ihn nach der Geschichte seines Niedergangs zu befragen, denn er selbst war sehr darum bemüht, ihn mich vergessen zu machen; an Tagen, an denen er ein reines Hemd trug und sich satt gegessen hatte, rief er mir gern die glorreiche Vergangenheit der Familie Laiguillon in die Erinnerung zurück und sprach wie ein gesetzter Bourgeois; manchmal sagte ich mir, dass dann, wenn er erfolgreich gewesen wäre, auch nicht mehr an ihm gewesen sein würde als an irgendeinem anderen, aber diese Strenge war eigentlich nicht am Platz: Es war kein Zufall, dass er auf eine so eindrucksvolle Weise gescheitert war. Er hatte sich nicht mit einem normalen Bankrott begnügt; man konnte ihm vieles zum Vorwurf machen, aber kleinlich war er nie; er war so tief hinabgesunken, dass er offenbar von jenem ‹Zerstörungswahn› besessen sein musste, den ich in seiner Jugend an ihm zu bemerken glaubte. Eine Heirat ging er offenbar ein, um Verantwortungen als Ballast aufzunehmen; er glaubte, wenn er seine Vergnügungen und Freiheiten opferte, werde er in sich einen neuen Menschen herausbilden, der eine solide Überzeugung von seinen Pflichten und Rechten in sich trüge und für Büro und Heim geeignet wäre. Doch Voluntarismus macht sich niemals bezahlt: Er blieb der Gleiche, ebenso unfähig, in die Haut eines soliden Bürgers zu schlüpfen wie aus ihr herauszuschlüpfen. In den Bars suchte er seiner Persönlichkeit als Gatte und Familienvater zu entrinnen; zugleich aber war er bemüht gewesen, auf der Leiter der bürgerlichen Werte eine höhere Stufe zu erklimmen, doch nicht durch geduldige Arbeit, sondern mit einem Sprung, den er in so unvorsichtiger Weise wagte, dass es fast sein geheimer Wunsch gewesen zu sein scheint, sich dabei die Knochen zu zerbrechen. Ohne allen Zweifel ist dieses Schicksal im Herzen des verlassenen, verschüchterten kleinen Jungen, der mit sieben Jahren in Glanz und Staub der Manufaktur Laiguillon umherirrte, vorgezeichnet gewesen, und wenn er uns in seiner Jugend so oft dazu ermahnte, ‹zu leben wie alle Welt›, so tat er es deshalb, weil er insgeheim zweifelte, dass

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