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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Désir hatten die Gewohnheit, den Jüngeren stets die Älteren als Beispiel vorzuhalten; was Poupette auch tat, der Abstand der Zeit, die Sublimierung durch die Legende wollten, dass alles mir besser geglückt war als ihr; kein Bemühen, kein Erfolg verhalfen ihr jemals dazu, sich gegen mich durchzusetzen. Als Opfer eines ungreifbaren Fluches litt sie und saß am Abend oft weinend auf ihrem Stühlchen. Man warf ihr ihr mürrisches Wesen vor: Es entstammte einzig und allein ihrem Minderwertigkeitsgefühl. Sie hätte mir daraufhin böse sein können, doch paradoxerweise fühlte sie sich nur in meiner Gegenwart wohl. Behaglich in meiner Rolle als Ältere installiert, maßte ich mir keine Überlegenheit über sie an außer der, die mein Alter mir gab; ich hielt sogar Poupette für sehr aufgeweckt in Anbetracht ihrer Jahre; ich nahm sie als das, was sie war: eine Gleichgestellte, die nur etwas jünger war als ich. Sie wusste mir Dank für meine Achtung ihrer Person und reagierte darauf mit unbedingter Ergebenheit. Sie war meine Gefolgsmännin, mein zweites Ich. Ich, meine Doppelgängerin: Wir waren einander vollkommen unentbehrlich.
    Ich bedauerte alle Einzelkinder; einsame Vergnügungen schienen mir fad, ich hielt sie nur gerade für ein Mittel, um die Zeit totzuschlagen. Wenn man zu zweien war, wurde ein Spiel mit dem Ball oder Paradieshüpfen zu einer Unternehmung, Reifentreiben ein Wettbewerb. Selbst um Abziehbilder zu machen oder einen Katalog auszumalen, brauchte ich eine Partnerin; in Form von Rivalität und Zusammenarbeit fand die Tätigkeit der einen Unterstützung durch die der anderen, sie entging der bloßen Zufälligkeit. Die Spiele, die mir am meisten am Herzen lagen, waren diejenigen, bei denen ich andere Personen darstellte; diese verlangten gebieterisch nach Gemeinsamkeit. Viel Spielsachen hatte wir nicht. Die schönsten – der Tiger, der springen konnte, der Elefant, der die Beine hob – wurden von unseren Eltern unter Verschluss gehalten und nur gelegentlich der Bewunderung von Gästen dargeboten. Ich bedauerte das nicht, sondern fühlte mich eher geschmeichelt, Dinge zu besitzen, mit denen auch die Großen sich amüsieren konnten; ich hatte lieber kostbare Sachen als besonders vertraute. Auf alle Fälle boten die äußeren Zutaten – Kaufladen, Kücheneinrichtung, Krankenschwester-Ausrüstung – der Einbildungskraft nur schwache Hilfen. Um die Geschichten, die ich erfand, lebendig werden zu lassen, brauchte ich eine Gefährtin.
    Eine Menge Anekdoten und Situationen, die wir szenisch umsetzten, waren von einer Banalität, die uns wohl bewusst war. Die Anwesenheit der Erwachsenen störte uns nicht dabei, Hüte zu verkaufen oder den Kugeln der Deutschen zu trotzen. Andere Szenarios, und zwar gerade diejenigen, die uns die liebsten waren, erforderten eine gewisse Heimlichkeit. Nach außen hin waren sie freilich völlig unschuldiger Natur; da sie aber unsere Kindheitserlebnisse auf eine höhere Ebene hoben oder die Zukunft vorwegnahmen, schmeichelten sie einer intimen und heimlichen Sphäre unser selbst. Ich werde später von denen sprechen, die mir von meinem Standpunkt aus die bezeichnendsten scheinen. Vor allem drückte ich selbst mich in ihnen aus, meiner Schwester diktierte ich sie zu und wies ihr Rollen darin an, die sie gefügig übernahm. Zu der Stunde, in der die Stille, Dunkelheit und Langeweile bürgerlicher Wohnstätten das Treppenhaus überlagern, ließ ich meinen Phantasien freien Lauf: Wir setzten sie mit großem Aufwand an Gesten und Worten in die Wirklichkeit um, und indem wir uns gegenseitig in unserer Behexung bestärkten, fanden wir einen Weg, uns von dieser Welt loszulösen, bis eine befehlende Stimme uns in den Alltag zurückrief. Am nächsten Tage fingen wir von neuem damit an. «Wir spielen
das
weiter», sagten wir uns. Dann kam ein Tag, an dem das allzu oft aufgewärmte Thema uns keine Anregung mehr bot; wir wählten sodann ein anderes, an das wir uns ein paar Stunden oder Wochen lang hielten.
    Ich verdanke meiner Schwester, dass ich durch diese Spiele in mir so manchen Traum habe abreagieren können; sie ermöglichte mir auch, mein Alltagsleben vor dem Verschweigen zu retten: In ihrer Gesellschaft gewöhnte ich mich daran, mich ständig mitzuteilen. In ihrer Abwesenheit schwankte ich zwischen zwei Extremen: Sprechen war entweder ein müßiges Geräusch, das ich mit meinem Munde hervorbrachte, oder, soweit es sich an meine Eltern richtete, ein ernst zu nehmender Vorgang;

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