Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
wenn aber wir, Poupette und ich, miteinander redeten, so hatten die Worte einen Sinn und wogen dennoch nicht schwer. Ich lernte die Vergnügungen des Austauschs freilich bei ihr nicht kennen, da uns alles gemeinsam war; aber wenn wir mit lauter Stimme zu den Vorfällen und seelischen Erregungen des Tages unsere Bemerkungen machten, so vervielfältigten wir ihren Wert. Es war nichts Bedenkliches an unseren Gesprächen; dennoch schufen sie zwischen uns, infolge der Wichtigkeit, die wir ihnen beiderseits zuerkannten, ein Einverständnis, das uns von den Erwachsenen trennte: Beide zusammen besaßen wir einen geheimen Garten, in dem wir uns ergingen.
    Wir hatten großen Nutzen davon. Überlieferte Gewohnheiten unterwarfen uns einer großen Menge von lästigen Verpflichtungen, besonders um den Neujahrstag herum. Wir mussten bei weitläufigen Verwandten an endlosen Familiendiners teilnehmen und Besuche bei versauerten alten Damen machen. Sehr oft retteten wir uns dann vor der Langeweile, indem wir ins Treppenhaus flüchteten und ‹das› spielten. Im Sommer organisierte Großpapa gern Ausflüge in die Wälder von Chaville oder von Meudon; um die Ode dieser Exkursionen zu bannen, hatten wir keine andere Zuflucht, als miteinander zu schwatzen; wir machten Pläne, wir ergingen uns in Erinnerungen; Poupette stellte mir Fragen; ich erzählte ihr Episoden aus der römischen Geschichte, aus der Geschichte Frankreichs oder Histörchen, die ich selbst erfand.
    Was ich am meisten an unserem Verhältnis zueinander schätzte, war, dass ich auf meine Schwester wirklichen Einfluss besaß. Die Erwachsenen machten mit mir, was sie wollten. Wenn ich ihnen Lobsprüche abrang, so lag doch der Entschluss, sie mir zu erteilen, immer noch bei ihnen selbst. Gewisse Formen meines Verhaltens wirkten unmittelbar auf meine Mutter ein, doch ohne jede Beziehung zu dem, was ich selber wollte. Zwischen meiner Schwester und mir vollzogen sich die Dinge auf eine eindeutigere Art. Wir stritten uns, sie weinte, ich wurde wütend, wir warfen uns als äußerste Beleidigung ein ‹Du bist ja dumm!›, an den Kopf, und dann versöhnten wir uns. Ihre Tränen waren nicht vorgetäuscht, und wenn sie über ein Scherzwort lachte, so sicherlich nicht aus bloßer Gefälligkeit. Sie allein erkannte meine Autorität an; die Erwachsenen gaben mir wohl zuweilen nach: Sie aber gehorchte mir.
    Eines der festesten Bande, das sich zwischen uns knüpfte, war das der Lehrerin zur Schülerin. Ich selber lernte so gern, dass ich auch das Lehren wundervoll fand. Jedoch meinen Puppen Unterricht zu erteilen bot mir keine Befriedigung: Ich wollte nicht nur bestimmte Gesten nachäffen, sondern ernstlich mein Wissen weitergeben.
    Indem ich meiner Schwester Lesen, Schreiben und Rechnen beibrachte, erfuhr ich an mir mit sechs Jahren bereits das stolze Gefühl des Wirkens. Ich bedeckte gern weiße Blätter mit Sätzen oder Zeichnungen, aber ich brachte damit nur Scheinobjekte hervor. Wenn ich jedoch Unwissenheit in Wissen verwandelte, Wahrheiten einem Geiste einprägte, der ein noch unbeschriebenes Blatt war, schuf ich etwas Wirkliches. Ich ahmte nicht die Erwachsenen nach, ich tat ernstlich das Gleiche wie sie, und mein Erfolg war auf ihre Anerkennung nicht mehr angewiesen. Er befriedigte in mir ernsthaftere Bestrebungen als etwa bloße Eitelkeit. Bis dahin war mein Bemühen nur gewesen, die Sorgfalt, die an mich gewendet wurde, Früchte tragen zu lassen: Zum ersten Mal war ich meinerseits jetzt zu etwas nütze. Ich entrann der Passivität, die das Stigma der Kindheit ist, ich trat in den großen menschlichen Kreislauf ein, in dem, so dachte ich mir, jeder den anderen nützlich ist. Seitdem ich ernsthaft arbeitete, verrann die Zeit nicht nur, sie zeichnete ihre Spur in mich ein; indem ich meine Kenntnisse einem anderen Gedächtnis anvertraute, hielt ich sie – die Zeit – in zwiefacher Weise fest.
    Dank meiner Schwester – meiner Komplizin, meiner Untertanin, meinem Geschöpf – bestätigte ich mein unabhängiges Selbst. Es ist klar, dass ich ihr eigentlich nur eine Art von ‹Gleichheit in der Andersartigkeit› zuerkannte, was ebenfalls eine Form ist, sich den Vorrang zu sichern. Ohne es mir ausdrücklich in dieser Form zu sagen, vermutete ich, dass meine Eltern diese Hierarchie anerkannten und dass ich ihr Lieblingskind war. Mein Zimmer ging auf den Korridor, in dem meine Schwester schlief und an dessen Ende das Arbeitszimmer meines Vaters lag; von meinem Bett aus hörte ich

Weitere Kostenlose Bücher