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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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meiner Eltern einen ernstlichen Vorteil: Sie waren reich. Als einfacher Soldat verdiente Papa fünf Sous pro Tag, und wir wussten kaum, wie wir auskommen sollten. Es kam vor, dass wir beide, meine Schwester und ich, zu überwältigend luxuriösen Festen eingeladen wurden; in ungeheuer weitläufigen, mit Lüstern, Seide und Samt geschmückten Räumen schwelgte eine Riesenschar von Kindern in Eiscreme und Petits Fours; wir sahen einem Kasperletheater zu oder bestaunten die Tricks eines Zauberkünstlers oder tanzten um einen Christbaum herum. Die anderen kleinen Mädchen waren in schimmernde Seide, in Spitzen gekleidet, während wir Kleider aus Wollgeweben von trüber Farbe trugen. Ich fühlte mich etwas unbehaglich, aber am Ende des Tages wendete ich, müde, erhitzt und mit überfülltem Magen, meine Unlustgefühle gegen Teppiche, Kristall und Gewänder aus Taft; ich war zufrieden, wieder zu Hause zu sein. Meine gesamte Erziehung war darauf ausgerichtet, dass Tugend und Bildung mehr wert seien als Reichtum; meine eigenen Neigungen kamen dem entgegen; ich fand mich also in heiterer Ruhe mit unserer bescheidenen Lage ab. Treu meinem optimistischen Grundgefühl redete ich mir sogar ein, sie sei beneidenswert. Ich sah in unserer Situation ein goldenes Mittelmaß. Die Armen, die Kinder von der Straße waren für mich Ausgestoßene; aber auch Fürsten und Millionäre waren meiner Meinung nach von der wirklichen Welt getrennt, ihre Sonderstellung hielt sie davon fern. Was mich selbst anbetraf, so glaubte ich, zu den höchsten und niedersten Sphären der Gesellschaft Zugang zu haben; in Wirklichkeit waren die Ersteren mir verschlossen, und von der zweiten Gattung war ich vollkommen abgeschnitten.
    Weniges nur vermochte meine Ruhe zu stören. Ich sah das Leben an wie ein glückhaftes Abenteuer; gegen den Tod bot der Glaube mir Schutz, ich würde die Augen schließen, und im Handumdrehen würden Engel mit schneeweißen Händen mich zum Himmel emportragen. In einem Buch mit Goldschnitt las ich eine apologetisch gemeinte Geschichte, die mich mit Gewissheit erfüllte: Eine kleine Larve, die auf dem Grunde eines Teiches lebte, fing an sich zu beunruhigen; eine nach der anderen verloren sich ihre Gefährtinnen in der Nacht des scheinbaren Firmaments in diesem wassererfüllten Raum: Würde auch sie verschwinden? Plötzlich fand sie sich jenseits aller Finsternis wieder; sie hatte Flügel; sie schwebte, vom Sonnenschein umschmeichelt, zwischen wundervollen Blumen dahin. Diese Analogie erschien mir wie ein unwiderleglicher Beweis; eine winzige Schicht von Himmelsbläue trennte mich vom Paradies, in dem das wahre Licht erstrahlte; oft legte ich mich mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen auf dem Moquetteteppich nieder und forderte meine Seele auf, meinen Leib zu verlassen. Es war freilich nur ein Spiel; wäre ich wirklich überzeugt gewesen, meine letzte Stunde sei da, so hätte ich vor Grauen geschrien. Der bloße Gedanke an den Tod jedoch erschreckte mich nicht. Eines Abends freilich erstarrte ich angesichts des Nichts. Ich las von einer Seejungfrau, die am Meeresstrande ihren Geist aufgab; aus Liebe zu einem schönen Prinzen hatte sie auf ihre unsterbliche Seele verzichtet, nun verwandelte sie sich in Schaum. Die Stimme, die in ihr unaufhörlich sagte: «Ich bin da», war für immer zum Schweigen gebracht. Es kam mir vor, als ob die ganze Welt sich in schauriger Stille verlor. Aber nein. Gott verhieß mir Ewigkeit: Nie würde ich aufhören zu sehen, zu hören, mit mir selbst zu sprechen. Es würde kein Ende geben.
    Immerhin hatte es einen Anfang gegeben: Das verwirrte mich manchmal. Die Kinder entstanden, so glaubte ich, auf ein göttliches Schöpfungswort hin. Doch entgegen aller Orthodoxie schränkte ich die Fähigkeiten des Allmächtigen ein. Diese Gegenwart in mir, die mir bestätigte, dass ich da war, hing von niemandem ab, nichts kam dagegen auf, es war unmöglich, dass irgendjemand, und wäre es selbst Gott, sie erst erschaffen hatte: Er hatte sich darauf beschränkt, ihr eine Hülle zu geben. Im überweltlichen Raume schwebten unsichtbar, ungreifbar, Myriaden kleiner Seelen umher, die darauf warteten, in einen Körper zu schlüpfen. Ich war eine davon gewesen, hatte aber alles vergessen. Sie irrten zwischen Himmel und Erde umher und würden sich ebenfalls späterhin nicht mehr daran erinnern. Angstvoll wurde ich mir klar, dass dieses Fehlen einer Erinnerung eben dem Nichts gleichkam; alles verlief so, als hätte ich,

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