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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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des Nachts meinen Vater mit meiner Mutter sprechen, und dieses friedliche Geräusch lullte mich wohlig ein; eines Abends stand mir das Herz still; mit gemessener, kaum von Neugier bewegter Stimme stellte Mama meinem Vater die Frage: «Welche von beiden ist dir die Liebere?» Ich erwartete, Papa werde meinen Namen aussprechen, aber einen Augenblick lang, der mich ewig dünkte, zögerte er: «Simone ist die Überlegenere, aber Poupette ist so anschmiegsam …» Sie wogen weiter das Für und das Wider ab und sprachen dabei aus, was ihnen gerade auf dem Herzen lag; schließlich einigten sie sich darauf, dass sie die eine von uns genau wie die andere liebten; das entsprach zwar ganz und gar dem, was man in Büchern liest: Eltern haben alle ihre Kinder gleich lieb. Dennoch empfand ich etwas wie Groll. Ich hätte nicht ertragen, wenn einer von ihnen meine Schwester mehr geliebt hätte als mich; wenn ich mich nun mit einer Teilung zur gleichen Hälfte abfand, so deshalb, weil ich überzeugt war, dass sie trotz allem zu meinem Vorteil ausschlug. Da ich die Ältere, Klügere, Kundigere von uns beiden war, mussten mich meine Eltern ja doch, bei sonst gleicher Liebe zu uns, höher einschätzen und das Gefühl haben, dass ich ihnen an Reife näherstünde.
    Ich hielt es für ein außergewöhnliches Glück, dass mir der Himmel ausgerechnet diese Eltern, diese Schwester, dieses Leben zugeteilt hatte. Ohne Zweifel hatte ich viele Gründe, mir wegen des Loses zu gratulieren, das mir zugefallen war. Im Übrigen war ich mit dem ausgestattet, was man ein glückliches Naturell nennt; ich hatte immer die Wirklichkeit ergiebiger als alle Trugbilder gefunden; nun aber waren die Dinge, die für mich am evidentesten existierten, die, die ich selbst besaß: Der Wert, den ich ihnen beilegte, sicherte mich vor Enttäuschungen, Sehnsucht und Bedauern; meine Zuneigungsgefühle waren weit stärker als meine Begierden; Blondine war schon alt, nicht mehr ganz frisch, dazu schlecht angezogen; aber nicht gegen die prächtigste aller Puppen, die in den Schaufenstern thronten, hätte ich sie ausgetauscht: Meine Liebe zu ihr machte sie einzigartig und vollkommen unersetzlich. Nicht für ein Paradies hätte ich den Park von Meyrignac hergegeben, für keinen Palast unsere Mietwohnung in der Stadt. Die Idee, dass Louise, meine Schwester, meine Eltern hätten anders sein können, als sie waren, kam mir auch nicht von ferne in den Sinn. Mich selbst vermochte ich mich nicht mit einem anderen Gesicht noch in einer anderen Haut vorzustellen, ich gefiel mir in der meinen durchaus.
    Von der Zufriedenheit zur Überheblichkeit ist es nicht eben weit. Voller Genugtuung über den Platz, den ich in der Welt einnahm, hielt ich ihn für privilegiert. Meine Eltern waren Ausnahmewesen, unser Heim kam mir mustergültig vor. Papa mokierte sich gern, Mama neigte zur Kritik; wenige Leute fanden Gnade vor ihnen, während ich niemals hörte, dass jemand sich über sie missbilligend äußerte; ihre Art zu leben galt mir als absolute Norm. Ihre Überlegenheit wirkte auf mich zurück. Im Luxembourggarten war uns verboten, mit fremden kleinen Mädchen zu spielen; offenbar weil wir selbst aus feinerem Stoff bestanden als sie. Wir durften auch nicht wie das gemeine Volk aus den Metallbechern trinken, die mit einer Kette an öffentlichen Brunnen aufgehängt waren; Großmama hatte mir eine Perlmuttmuschel geschenkt, ein Exemplar, das so einzig in seiner Art war wie unsere horizontblauen Mäntel. Ich erinnere mich an einen Fastnachtsdienstag, an dem unsere Tüten anstatt mit Konfetti mit Rosenblättern angefüllt waren. Mama kaufte nur bei bestimmten Konditoren ein; die Eclairs vom Bäcker schienen mir so wenig essbar, als seien sie aus Gips gemacht: Dass unser Magen so empfindlich war, unterschied uns ebenfalls von der großen Masse. Während die meisten Kinder meiner Umgebung
La Semaine de Suzette
halten durften, war ich auf
L’Étoile noëliste
abonniert, dessen moralisches Niveau Mama für höher hielt. Ich ging zur Schule nicht in ein Lyzeum, sondern in ein privates Institut, das durch zahlreiche Einzelheiten seine Originalität bekundete; die einzelnen Klassen zum Beispiel waren merkwürdig nummeriert: Null, Eins, Zwei, Drei A, Drei B, Vier A und so fort. Den Katechismusunterricht absolvierte ich in der Kapelle dieses Instituts, ohne mich unter die Herde der Kinder der Gemeinde zu mischen. Ich gehörte einer Elite an.
    Indessen genossen in diesem erlesenen Kreise gewisse Freunde

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