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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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bevor ich in der Wiege erschien, gar nicht existiert. Dem musste man begegnen: Ich würde im Vorübergehen die Irrlichter fassen, deren illusorisches Licht nichts zu erhellen vermochte, ich würde sie mit meinem Blick begaben, ihre Nacht zerstreuen, und die Kinder, die morgen auf die Welt kämen, würden sich erinnern … Ich verlor mich bis zur Bewusstlosigkeit in solchen müßigen Träumereien und versuchte damit vergeblich, die ärgerniserregende Spaltung zwischen meinem Bewusstsein und der Zeit abzuleugnen.
    Ich jedenfalls hatte mich aus dem Dunkel erhoben, die Dinge um mich her jedoch blieben darin begraben. Ich liebte die Märchenerzählungen, in denen eine Stopfnadel wirklich stopfnadelhafte Ideen und ein Buffet Gedanken hat wie ein Möbel aus Holz; aber das waren Märchen; die Dinge mit ihren undurchlässigen Herzen ruhten schwer auf der Erde, ohne es zu wissen, ohne murmeln zu können: «Ich bin da!» Ich habe an anderer Stelle erzählt, wie ich in Meyrignac töricht einen alten Männerrock anstarrte, der über einer Stuhllehne hing. Ich versuchte an seiner Stelle zu sagen: «Ich bin ein alter, abgetragener Rock.» Das war unmöglich, und etwas wie Panik befiel mich. In den abgelaufenen Jahrhunderten, im Schweigen der unbelebten Dinge fühlte ich mein eigenes Nichtmehrsein voraus: Ich ahnte die nur mit trügerischen Mitteln gebannte Wahrheit meines Todes.
    Mein Blick schuf das Licht: In den Ferien zumal berauschte ich mich an Entdeckungen, aber augenblicksweise nagte ein Zweifel an mir: Weit davon entfernt, mir die Welt zu enthüllen, entstellte meine Gegenwart sie vielmehr. Gewiss, ich glaubte nicht, dass, während ich schlief, die Blumen im Salon einen Ball besuchten noch dass sich in der Vitrine zwischen den dort aufgestellten Figuren zarte Beziehungen entwickelten. Aber ich hatte manchmal den Verdacht, dass das so vertraute Land es mache wie die Zauberwälder, die sich verwandeln, wenn ein unerwünschter Gast sie betritt: Spukbilder entstehen unter seinem Schritt, er verirrt sich, Lichtungen und Dickicht geben ihm ihr Geheimnis nicht preis. Hinter einem Baum verborgen, versuchte ich vergebens, einen überraschenden Einblick in die Einsamkeit der Büsche und Gesträuche zu tun. Eine Geschichte, die
Valentin oder der Dämon der Neugier
hieß, machte großen Eindruck auf mich. Eine Fee, die Valentins Patin war, fuhr diesen in ihrer Karosse spazieren; draußen, sagte sie, zögen wundervolle Landschaften an ihnen vorbei, aber die Vorhänge an den Fenstern gestatteten nicht hinauszusehen, fortschieben durfte er sie jedoch nicht; von seinem bösen Geist getrieben, missachtete Valentin diese Weisung: Er sah nur Finsternis, sein Blick hatte die Dinge getötet. Ich interessierte mich nicht für die Fortsetzung der Geschichte: Während Valentin gegen seinen bösen Geist ankämpfte, schlug ich selbst mich angstvoll mit dem Dunkel des Nichtwissens herum.
    Obwohl meine Ängste manchmal unerhört quälend waren, vergingen sie doch schnell. Die Erwachsenen garantierten mir die Welt, und nur selten versuchte ich, ohne ihre Hilfe in sie einzudringen. Ich zog es vor, ihnen in die fiktiven Bezirke zu folgen, die sie eigens für mich erschaffen hatten.
    Ich ließ mich im Vorzimmer gegenüber von dem normannischen Schrank und der geschnitzten Standuhr nieder die zwei kupferne Tannenzapfen und das Dunkel der Zeit in sich barg; in der Wand tat sich die Heizungsöffnung auf; durch das vergoldete Gitter hindurch atmete ich einen widerwärtigen Geruch ein, der aus den Tiefen kam. Dieser Abgrund, diese Stille, die nur vom rhythmischen Ticktack der Uhr unterbrochen wurde, schüchterten mich ein. Die Bücher jedoch gaben mir meine Sicherheit zurück. Sie sprachen zu mir und verheimlichten nichts; in meiner Abwesenheit schwiegen sie; ich schlug sie auf, und dann besagten sie genau das, was sie sagten; wenn ein Wort mir unbekannt war, erklärte Mama es mir. Auf dem Bauche auf dem Moquetteteppich liegend, las ich Madame de Ségur, Zénaïde Fleuriot, die Märchen von Perrault und von Grimm, von Madame d’Aulnoy, von Christoph von Schmid, die Alben von Töpffer,
Bécassine
, die Abenteuer der Familie Fenouillard und die des Pioniers Camember,
Sans Famille
, Jules Verne, Paul d’Ivoi, André Laurie und die Serie der ‹Livres roses›, die bei Larousse erschienen und in denen die Sagen aller Länder der Welt, während des Krieges auch heroische Begebenheiten wiedergegeben wurden.
    Man gab mir nur sorgfältig ausgewählte Kinderbücher

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