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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Schauspiel werden zu sehen. Eine Frau deckte den Tisch, ein Ehepartner plauderte: Wenn solche Familienszenen sich in einer gewissen Entfernung im Lichte von Kronleuchtern oder Hängelampen abspielten, wetteiferten sie an Glanz mit den Märchenbildern des Châtelet. Ich fühlte mich nicht davon ausgeschlossen; ich hatte den Eindruck, ungeachtet der Verschiedenheit von Dekorationen und Schauspielern eine einzige Geschichte in ihrem Ablauf zu verfolgen. Unendlichfach von Haus zu Haus, von einer Stadt zur anderen zurückgestrahlt, nahm meine Existenz an dem Reichtum ihrer zahllosen Reflexe teil; sie schuf sich einen Ausblick auf die ganze Welt.
    Am Nachmittag blieb ich lange auf dem Esszimmerbalkon in Höhe der Wipfel sitzen, die dem Boulevard Raspail ihren Schatten spendeten, und sah den Vorübergehenden nach. Ich kannte die Gepflogenheiten der Erwachsenen zu wenig, als dass ich möglicherweise hätte erraten können, wohin sie so eilig strebten, welche Sorgen und Hoffnungen sie in ihrem Innern bewegten. Ihre Gesichter, ihre Gestalten, der Ton ihrer Stimmen fesselten mich; tatsächlich kann ich mir heute das Glück, das ich daran fand, gar nicht mehr recht erklären; aber ich erinnere mich noch, wie verzweifelt ich war, als meine Eltern sich entschlossen, in eine Wohnung im fünften Stock der Rue de Rennes zu ziehen: «Da kann ich ja die Leute auf der Straße gar nicht mehr sehen!» Man schnitt mich von der Welt ab, man verdammte mich zum Exil. Auf dem Lande machte es mir wenig aus, zu einem Einsiedlerdasein gezwungen zu sein: Die Natur war mir mehr als genug; in Paris hingegen hungerte ich nach menschlicher Gegenwart. Die Wahrheit einer Stadt liegt in ihren Bewohnern: Mangels intimer Verbindung mit ihnen musste ich sie allermindestens sehen. Schon so kam es vor, dass ich gern den Kreis, der mich umschloss, durchbrochen hätte. Ein Gang, eine Gebärde, ein Lächeln sprachen mich derart an, dass ich am liebsten dem Unbekannten nachgelaufen wäre, der um die Straßenecke verschwand und dem ich niemals wieder begegnen würde. Eines Nachmittags ließ im Luxembourggarten ein großes junges Mädchen in apfelgrünem Kostüm ein paar Kinder Seil hüpfen; sie hatte rosige Wangen und lachte auf eine muntere, zärtliche Art. Am Abend erklärte ich meiner Schwester: «Ich weiß jetzt, was Liebe ist!» Ich hatte tatsächlich andeutungsweise etwas Neues erlebt. Mein Vater, meine Mutter, meine Schwester, alle, die ich liebte, gehörten mir. Zum ersten Male ahnte ich, dass man sich am innersten Herzen durch einen Strahl getroffen fühlen kann, der von
anderswoher
kommt.
    Solche kurzen Ansätze hinderten mich nicht, mich fest da verankert zu fühlen, wo ich selbst im Leben stand. Obwohl auf andere neugierig, träumte ich nicht von einem Geschick, das nicht das meine war. Insbesondere bedauerte ich nie, ein Mädchen zu sein. Da ich, wie ich schon sagte, immer vermied, mich in eitlen Wünschen zu verlieren, nahm ich heiter hin, was mir beschieden war. Andererseits sah ich keinen greifbaren Grund, weshalb ich schlecht davongekommen sein sollte.
    Ich hatte keinen Bruder, also auch keinen Vergleich dafür, dass gewisse Freiheiten mir durch mein Geschlecht versagt bleiben mussten; ich schrieb den Zwang, der mir auferlegt wurde, einzig meiner Jugend zu; ich empfand als Beschränkung, dass ich noch ein Kind, niemals, dass ich ein Mädchen war. Die Jungen, die ich kannte, hatten nichts besonders Imponierendes an sich. Der aufgeweckteste war der kleine René, der ausnahmsweise am Anfangsunterricht des Cours Désir teilnehmen durfte; doch bekam ich meinerseits bessere Noten als er. Auch war ja meine Seele in den Augen Gottes nicht weniger kostbar als die der männlichen Kinder: Weshalb also hätte ich sie beneiden sollen?
    Wenn ich hingegen die Erwachsenen betrachtete, waren meine Erfahrungen etwas zwiespältiger Natur. Auf gewissen Gebieten kamen mir Papa, Großpapa sowie meine Onkel ihren Frauen überlegen vor. Aber im täglichen Leben spielten Louise, Mama und ‹die Damen› die erste Rolle. Madame de Ségur, Zénaïde Fleuriot wählten Kinder zu Helden und ordneten sie den Erwachsenen unter; die Mütter aber nahmen in ihren Büchern die wichtigste Stelle ein. Die Väter zählten nicht. Ich selbst betrachtete im Wesentlichen die Erwachsenen unter dem Gesichtspunkt ihrer Beziehungen zu Kindern: In dieser Hinsicht war mir durch mein Geschlecht der unbedingte Vorrang gewiss. Bei meinen Spielen, Überlegungen, Plänen habe ich mich nie in einen

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