Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Mangel an Vorsicht den dunklen Mächten anheimgegeben, die ihre Seele verwüsteten; weshalb hatte Gott ihr denn da nicht geholfen? Und wie können von Menschen zusammengefügte Worte die Wahrheiten aus dem Jenseits zunichtemachen? Am wenigsten vermochte ich zu begreifen, dass Erkenntnis zur Verzweiflung führen kann. Der Pfarrer hatte nicht gesagt, dass schlechte Bücher das Leben falsch darstellten; in diesem Falle hätte er sie ja leichthin als verlogen abtun können; das Drama des Kindes, das er nicht hatte retten können, bestand darin, dass es das wahre Antlitz der Wirklichkeit vor der Zeit aufgedeckt hatte. Auf alle Fälle, sagte ich mir, würde ich es eines Tages selbst erblicken und daran nicht sterben: Die Vorstellung, dass es ein Alter gibt, in dem die Wahrheit tötet, widerstand meiner rationalistischen Art.
Das Alter im Übrigen spielte nicht allein eine Rolle; Tante Lili durfte nur Bücher ‹für junge Mädchen› lesen; Mama hatte Louise
Claudine à l’École
aus den Händen gerissen und am Abend zu Papa darüber folgende Bemerkung gemacht: «Zum Glück hat sie nichts verstanden!» Die Heirat war das Gegengift, das einem gestattete, gefahrlos die Früchte vom Baum des Wissens zu kosten: Ich konnte mir nicht erklären, wieso. Ich kam nie auf den Gedanken, diese Probleme mit meinen Kameradinnen zu erörtern. Eine Schülerin war aus dem Unterricht verwiesen worden, weil sie ‹hässliche Gespräche› geführt hatte; ich sagte mir mit gutem Gewissen, dass ich, hätte sie versucht, mich als Partnerin zu wählen, darauf nicht eingegangen wäre.
Meine Cousine Madeleine hingegen las, was ihr in die Hände fiel. Papa war empört gewesen, sie im Alter von zwölf Jahren in die
Drei Musketiere
vertieft zu sehen; Tante Hélène hatte nur die Achseln gezuckt. Mit Romanlektüre angefüllt, die ‹für ihr Alter noch nichts war›, schien Madeleine gleichwohl nicht an Selbstmord zu denken. Im Jahre 1919 hatten meine Eltern in der Rue de Rennes eine Wohnung gefunden, die weniger kostspielig war als die am Boulevard Montparnasse; sie ließen meine Schwester und mich während der ersten Oktoberhälfte in La Grillère, um in Ruhe den Umzug besorgen zu können. Wir waren von morgens bis abends allein mit Madeleine. Eines Tages fragte ich sie ganz spontan zwischen zwei Partien Krocket, um was es sich in den verbotenen Büchern denn eigentlich handle; ich hatte nicht vor, mir den Inhalt erzählen zu lassen, ich wollte nur wissen, aus welchen Gründen man sie uns vorenthielt.
Wir hatten unsere Hämmer auf die Seite gelegt und saßen neben dem Platz, auf dem die Drahtbogen aufgestellt waren. Madeleine zögerte, lachte verlegen und begann dann zu sprechen. Sie zeigte uns ihren Hund und machte uns auf zwei Kugeln aufmerksam, die er zwischen den Beinen trug. «Na also», sagte sie, «die Männer haben so etwas auch.» In einer ‹Romane und Novellen› benannten Sammlung hatte sie eine melodramatische Geschichte gelesen: Eine Marquise, die ihren Mann mit Eifersucht verfolgte, ließ ihm, während er schlief, diese Gebilde entfernen. Er starb an der Operation. Ich fand eine solche anatomische Betrachtung völlig unergiebig und drängte, ohne daran zu denken, dass ich jetzt selbst ‹hässliche Gespräche› führte, Madeleine, sich eingehender zu äußern. Sie erklärte mir darauf, was die Ausdrücke ‹Liebhaber› und ‹Geliebte› bedeuteten; wenn Mama und ‹Tonton› Maurice einander liebten, so würde sie seine ‹Geliebte› und er ihr ‹Liebhaber› sein. Sie ließ sich aber nicht deutlich über den Sinn des Wortes ‹lieben› aus, sodass ihre Unterweisung mich stutzig machte, ohne mich tatsächlich zu belehren. Ihre Reden begannen mich erst zu interessieren, als sie mich darüber aufklärte, wie die Kinder auf die Welt kommen. Das bloße Zurückgreifen auf den göttlichen Willen befriedigte mich nicht mehr, denn ich wusste, dass Gott, wenn man von Wundern absieht, immer mit der natürlichen Folge von Ursache und Wirkung operiert: Was sich auf Erden zuträgt, verlangt auch nach einer irdischen Erklärung. Madeleine bestätigte meinen Argwohn, dass die Kinder sich im Innern der Mutter bildeten; ein paar Tage zuvor hatte die Köchin, als sie eine Häsin ausnahm, in ihrem Innern sechs kleine Häschen gefunden. Wenn eine Frau ein Kind erwartet, sagt man, sie sei schwanger, und ihr Leib wird stärker. Weitere Einzelheiten teilte Madeleine uns eigentlich nicht mit. Sie setzte nur noch hinzu, dass in ein oder zwei Jahren
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