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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Metro küssen; überschritt sie diese Regeln, so war sie eine ‹gewöhnliche› Person. Ungehörigkeit war nicht ganz dasselbe wie Sünde, rief aber strengeren Tadel hervor als bloße Lächerlichkeit. Wir verspürten beide, meine Schwester und ich, dass sich unter ihrer harmlosen Außenseite etwas Wichtiges verbarg, und um uns gegen dieses Geheimnis zu schützen, waren wir eifrig bestrebt, es ins Lächerliche zu wenden. Im Luxembourggarten stießen wir beide einander mit dem Ellbogen an, wenn wir an einem verliebten Paar vorübergingen. Die Ungehörigkeit hatte in meinem Bewusstsein einen – wenn auch äußerst vagen – Zusammenhang mit einem andern Geheimnis: den verbotenen Büchern. Manchmal steckte Mama, bevor sie mir ein Werk übergab, ein paar Blätter zusammen; in Wells’
The War of the Worlds
stieß ich so auf ein ganzes Kapitel, dessen Lektüre mir verboten war. Niemals zog ich die Nadeln heraus, aber ich fragte mich oft: Wovon ist da die Rede? Es war sonderbar. Die Erwachsenen redeten frei in meiner Gegenwart; ich bewegte mich in der Welt, ohne auf irgendwelche Hindernisse zu stoßen; dennoch verbarg sich etwas hinter all dieser Transparenz; aber was? und wo steckte es? Vergebens durchforschte mein Blick den Horizont auf der Suche nach der geheimen Zone, die durch keine Zwischenwand vor mir verborgen wurde, aber gleichwohl unsichtbar blieb.
    Eines Tages, als ich an Papas Schreibtisch saß und arbeitete, lag in Reichweite ein Buch mit gelbem Umschlag:
Cosmopolis.
Müde, mit leerem Kopf, schlug ich es mechanisch auf; ich hatte nicht die Absicht, darin zu lesen, aber es kam mir vor, als würde ein Blick ins Innere dieses Bandes, selbst wenn ich nicht einmal so weit kam, dass aus den Wörtern sich Sätze gestalteten, mir etwas von seinem Geheimnis preisgeben. Auf einmal stand Mama hinter mir. «Was tust du da?» Ich stotterte irgendetwas. «Das darfst du nicht!», sagte sie. «Nie darfst du Bücher anrühren, die nicht für dich bestimmt sind.» Ihre Stimme hatte etwas Beschwörendes, und ihr Gesicht trug den Ausdruck einer Beunruhigung, die überzeugender als ein Vorwurf war; zwischen den Seiten von
Cosmopolis
schien auf mich eine große Gefahr zu lauern. Ich erging mich in Versprechungen. In meinem Gedächtnis ist diese Episode unauflöslich mit einem noch älteren Vorgang verknüpft: Als ich noch ganz klein war, hatte ich, auf einem Sessel sitzend, meinen Finger in das schwarze Loch einer elektrischen Steckdose gebohrt; der Schlag, den ich erhielt, bewirkte, dass ich vor Schreck und Schmerz laut schrie. Habe ich, während meine Mutter sprach, auf das schwarze Rund in der Porzellanplatte geblickt, oder haben sich die beiden Dinge erst später in meinem Bewusstsein so eng zusammengeschoben? Auf alle Fälle hatte ich den Eindruck, dass ein Kontakt mit den Zola- oder Bourgetbänden des Bücherschranks in mir einen unvorhersehbaren, zu Boden schmetternden Schlag hervorbringen würde. Und wie das Schienensystem der Metro, das mich faszinierte, weil das Auge über seine blanke Oberfläche hinglitt, ohne die darin ruhende mörderische Kraft zu entdecken, flößten diese alten Bände mit den lose gewordenen Rücken mir umso ärgere Furcht ein, als nichts ihre unheilvolle Macht nach außen hin spürbar machte.
    Während der Anleitungen zur Sammlung, die meiner feierlichen ersten Kommunion vorausgingen, erzählte uns der Pfarrer, um uns gegen die Versuchung der Neugier zu wappnen, eine Geschichte, durch die die Spannung auf die Spitze getrieben wurde. Ein erstaunlich gescheites, frühreifes kleines Mädchen, das jedoch von wenig wachsamen Eltern erzogen worden war, hatte sich ihm eines Tages anvertraut: Sie hatte so viele schlechte Bücher gelesen, dass sie den Glauben verloren hatte und vor dem Leben Grauen empfand. Er versuchte, ihr die Hoffnung zurückzugeben, aber die Verheerung in ihrem Innern war schon zu weit vorgeschritten; kurze Zeit darauf hörte er, dass sie sich umgebracht habe. Meine erste Regung war eifersüchtige Bewunderung für das kleine Mädchen, das nur ein Jahr älter als ich und doch schon so viel besser unterrichtet gewesen war. Dann versank ich in Ratlosigkeit. Der Glaube war meine Versicherung gegen die Hölle: Ich fürchtete sie zu sehr, um eine Todsünde zu begehen; wenn man aber zu glauben aufhörte, taten sich alle Abgründe auf; konnte einen unverdient so furchtbares Unglück treffen? Die kleine Selbstmörderin hatte nicht einmal durch Ungehorsam gesündigt; sie hatte sich nur durch

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