Memoria
Enthüllung veränderte mein Leben, so viel stand fest. Ich würde es mit allerlei Turbulenzen zu tun bekommen. Und die heikelste davon, die mich sowieso schon die ganze Zeit beschäftigte, hing mit der Person zusammen, die jetzt mein BlackBerry zum Klingeln brachte, als ich gerade von der Interstate in Richtung Terminal abfuhr.
Einen Moment lang fragte ich mich, ob ich den Anruf annehmen sollte, doch im Grunde hatte ich keine Wahl.
«Hi.»
«Hi, mein Hübscher», begrüßte mich Tess. «Wie läuft das Junggesellen-Wochenende? Mussten die Shermans schon die Polizei rufen?»
Ihre Stimme war Balsam für meine erschütterte Seele. «Sie haben es angedroht, aber wir konnten uns gütlich einigen.»
«Wie hast du das angestellt?»
«Ich habe sie eingeladen rüberzukommen und ihnen ein Pfeifchen angeboten. Das Problem ist nur, jetzt werde ich sie nicht mehr los. Diese Leute können Party machen!»
Ich hörte Tess kichern. Sicher stellte sie sich bildlich das über siebzigjährige Paar im Outfit einer Studentenverbindung vor – was ganz sicher kein schöner Anblick wäre. Ich nutzte diesen Moment der Heiterkeit.
«Hör mal, ich kann jetzt nicht reden. Ich bin gerade im Begriff, in einen Flieger zu steigen.»
«Ach, Schätzchen», witzelte sie, «du kannst es wohl nicht erwarten bis zum nächsten Wochenende?»
Ich brachte ein kleines Kichern zustande. «Das ist es nicht.»
Tess wurde plötzlich ernst. «Das dachte ich mir irgendwie schon. Was ist los? Wohin fliegst du?»
«Nach San Diego.» Ich zögerte, ehe ich hinzufügte: «Da ist was vorgefallen. Ich muss dringend hin.»
«Irgendwas, worüber ich mir Sorgen machen müsste?»
«Nein.» Ich hasste es, Tess anzulügen, auch wenn es eher ein Verschweigen war als eine direkte Lüge. Und es war ein Satz, den ohnehin niemand glaubte, ich selbst in diesem Moment am wenigsten. Aber ich konnte Tess jetzt nicht einweihen, nicht über ein Handy mit Freisprecheinrichtung in einem Auto.
«Aber es ist dramatisch genug, dass du dich deswegen auf der Stelle ins Flugzeug stürzt?»
Ich zögerte wieder, ich wollte wirklich nicht lügen. Ich musste das Gespräch abbrechen. «Es ist wirklich nichts Ernstes. Hör mal, ich bin jetzt am Flughafen, ich muss Schluss machen. Ich rufe dich zurück, okay?»
Tess schwieg einen Moment lang, dann sagte sie: «Ja, klar. Aber – Sean?»
Sie brauchte es nicht auszusprechen, die Sorge in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Sie sagte das immer, auch nach all den heiklen Situationen, die wir zusammen durchgestanden hatten.
«Ich weiß», sagte ich.
«Ruf mich an.»
«Versprochen.»
Damit beendete ich das Gespräch. Ich fühlte mich mies, weil ich Tess unnötig Sorgen bereitete, und noch weitaus mieser, weil ich ihr nicht die Wahrheit gesagt hatte.
Tatsache war, ich wusste nicht, wie ich ihr die Neuigkeit beibringen sollte. Ganz gleich, wie ich es einleitete oder formulierte oder beschönigte, es würde ihr weh tun.
Wir hatten ein paar Jahre lang erfolglos versucht, ein Kind zu bekommen. Wer weiß schon wirklich, warum so etwas vorkommt. Die Ärzte machen alle möglichen Untersuchungen und erklären, was ihrer Meinung nach der Grund ist, aber letztendlich hatten wir wohl einfach Pech. Nach Ansicht der Spezialisten war die wahrscheinlichste Erklärung Tess’ Alter und dass sie so viele Jahre lang die Pille genommen hatte. Aber was immer der Grund war, und obwohl wir es in den besten Kliniken mit Reagenzglasbefruchtung versucht hatten, es gelang einfach nicht. Der quälende Prozess war zu einer langen Leidensgeschichte geworden, und jeder gescheiterte Versuch bedeutete ein neues emotionales Trauma. Tess wurde immer depressiver, quälte sich mit Unzulänglichkeitsgefühlen, was mir absurd erschien – sie ist die fähigste und großzügigste Frau, die ich je gekannt habe. Aber sie wusste, wie sehr ich mir gewünscht hatte, selbst Vater zu werden, nicht nur Kims Stiefvater zu sein, und sosehr ich mich bemühte, die Enttäuschung herunterzuspielen, die ich im tiefsten Inneren empfand, ich war wohl einfach nicht überzeugend genug. Für Tess wurde das Zusammensein mit mir immer schwerer, und am Ende war sie nach Jordanien geflogen unter dem Vorwand, sie müsse dort für ihren geplanten Templer-Roman recherchieren. Es war noch nicht lange her, dass wir durch Zufall wieder zusammengekommen waren – ein Zufall, der beinahe tödlich ausgegangen wäre, denn Tess war in Petra von einem wahnsinnigen iranischen Agenten entführt
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