Memoria
offenbar versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. «Hör mal, mir ist klar, worauf du hinauswillst, aber es ging nicht um ihn, Sean.» Sie klang verärgert, dann fasste sie sich wieder. «Sie haben ihn erschossen, kaum dass er die Tür geöffnet hatte. Es ging ihnen um mich. Und wenn ich nicht wäre, wenn er nicht letzte Nacht bei mir geschlafen hätte, dann würde er jetzt noch –»
«Ich bitte dich, Mish», fiel ich ihr ins Wort. «Du darfst dich nicht mit solchen Gedanken quälen. Es war einfach Pech, nichts als entsetzliches Pech. Und ich will wirklich nicht kaltschnäuzig oder egoistisch klingen, aber wenn er nicht gewesen wäre, hätten sie dich gekriegt, und wir würden jetzt nicht hier stehen.» Ich schwieg einen Moment lang, um meine Worte wirken zu lassen, dann fügte ich hinzu: «Was ist mit seinem Umfeld? Mit Geschäftspartnern, Freunden, Verwandten – wie viel wusstest du sonst noch über sein Leben?»
«Es ging nicht um ihn», beharrte sie. «Er war ein lieber, aufrichtiger Kerl. Vertrau mir, in seinem Leben gab es nichts, was zu so etwas hätte führen können. Er war nur einfach zufällig gerade da.»
Ich sah sie einen Moment lang an, dann sagte ich «Okay» und beschloss, diesen Punkt vorerst ruhen zu lassen. Trotzdem würde ich die örtliche Dienststelle um eine Hintergrundüberprüfung bitten, auch wenn ich in meinem tiefsten Inneren Michelles Gefühl traute. «Also, wenn es um dich ging … was steckt dann dahinter? Du hast gesagt, in deinem Leben lief alles glatt.»
«Vollkommen.»
«Was ist es dann? Eine Art Bumerang-Effekt aus deiner Zeit bei der DEA ?»
«Muss wohl. Ich meine, mir fällt keine andere Möglichkeit ein, aber … warum gerade jetzt? Ich habe diesem Leben vor vier, fünf Jahren den Rücken gekehrt.»
Das war ein berechtigter Einwand. Es erschien nicht plausibel, dass etwas von damals sich nach so langer Zeit rächte.
«Und seitdem hast du nur noch als Basketballtrainerin gearbeitet?»
«Ja. Mit meinen Qualifikationen hatte ich ja nicht gerade unbegrenzte Möglichkeiten. Außerdem macht es mir Spaß. So habe ich Gelegenheit, mit Kids zu arbeiten und dafür zu sorgen, dass sie nicht auf die schiefe Bahn geraten. Ich kann in ihrem Leben etwas bewirken, das gefällt mir. Sie öffnen sich mir und erzählen mir Sachen.»
«Was für Sachen?»
«Teenager-Zeug.»
«Drogen?»
Sie nickte. «Natürlich. Drogen spielen in ihrem Leben eine große Rolle, das weißt du doch. Und ich denke, vielleicht kann ich trotz allem etwas bewirken, vielleicht kann ich mehr für ihr Wohlergehen tun, als nur dafür zu sorgen, dass sie genügend an die frische Luft kommen. Ohne dafür eine Dienstmarke tragen zu müssen.»
Ich fragte mich, ob es hier eine Spur geben könnte. «Wovon sprechen wir hier? Bist du irgendwem ernsthaft in die Quere gekommen? So sehr, dass sich vielleicht ein angepisster Dealer an dir rächen wollte?»
«Auf keinen Fall», entgegnete Michelle. «Das ist alles in ganz kleinem Rahmen. Ich rede mit den Kids, erzähle ihnen von Dingen, die ich gesehen habe. Ich spiele nicht den Sheriff der Nation oder so.»
Ich dachte kurz darüber nach. Auch mit diesem Punkt sollte man sich näher beschäftigen. Nach Michelles Beschreibung des Überfallkommandos zu urteilen glaubte ich allerdings nicht recht, dass sich daraus etwas ergeben würde.
«Okay. Was ist mit deinem Leben vor Tom? Welche anderen Beziehungen hattest du? Könnten irgendwelche Exfreunde mit dem Überfall in Verbindung stehen?»
Michelle runzelte nachdenklich die Stirn, dann sagte sie: «Na ja, da war dieser Idiot von einem FBI -Agenten, der mich geschwängert und dann verlassen hat.» Sie sah mich mit ausdrucksloser Miene an, dann stahl sich der Anflug eines reuigen Lächelns auf ihr Gesicht. «Entschuldige. Ich weiß, das war unfair. Aber die Sache ist die, nach dir … Ich hatte ein Neugeborenes zu versorgen. Denkst du, da wäre ich durch die Clubs gezogen und hätte Männer aufgerissen?»
«Nein, aber … das liegt ja ein paar Jahre zurück. Du musst doch vor Tom noch andere Männergeschichten gehabt haben?»
Sie winkte ab. «Ja, klar, es gab da ein paar Typen. Aber nichts Ernstes. Und an keinem von denen war auch nur im Entferntesten etwas Zwielichtiges. Nachdem ich den Job bei der DEA geschmissen hatte, wollte ich mit diesem Leben nichts mehr zu tun haben. Ich musste an mein Kind denken. Da war Schluss mit solchem Scheiß.»
Ich schmunzelte ein wenig. Sie bemerkte es.
«Was ist?»
«Ach, es fällt mir
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