Menetekel
Das Licht am Himmel hatte sich praktisch nicht verändert. Noch immer das fahle Grau, das sie auch nicht gerade aufmunterte. Sie hätte dringend schlafen müssen, und wenn auch nur für ein oder zwei Stunden, damit sie wieder klar denken konnte. Es musste jetzt nach Mitternacht sein, und das unablässige Tageslicht des antarktischen Sommers hatte ihre innere Uhr gehörig durcheinandergebracht. Aber es gab noch zu viele Fragen, die nach einer Antwort verlangten.
«Gracie, jetzt hör aber auf», sagte Dalton. «Er redet von Pater Hieronymus.»
«Ja und?»
«Machst du Witze? Der Mann ist ein lebender Heiliger. Der denkt sich so etwas doch nicht aus. Da könntest du ja ebenso gut behaupten, dass – was weiß ich – der Dalai-Lama ein Lügner ist.»
Pater Hieronymus, der als Sohn spanischer Bauern zurWelt gekommen war, war in der Tat so etwas wie ein lebender Heiliger, und das sozusagen von Kindesbeinen an. Schon in jungen Jahren galt er als selbstlos. Es hieß, dass er schon früh Kraft im katholischen Glauben fand. Mit siebzehn entschied er sich für das Priesterseminar, war erst in Andalusien und dann – als Missionar – in Afrika, wo er mit seiner karitativen Arbeit vor allem Kindern in Armut half.
«Ja, schon. Aber es war nicht Pater Hieronymus, der uns angerufen hat, richtig? Wir wissen doch gar nicht, ob der Anruf wirklich aus Ägypten kam, geschweige denn aus diesem Kloster.»
«Na, wir wissen jedenfalls, dass Pater Hieronymus wirklich dort ist», sagte Finch.
Ihre Recherchen hatten ergeben, dass Pater Hieronymus vor etwa einem Jahr in Ägypten bei der Arbeit in einer seiner Missionsstationen nahe der Grenze zum Sudan erkrankt war. Nach seiner Genesung hatte er sich mit knapp sechzig Jahren von seinen Aktivitäten zurückgezogen und verkündet, er bräuchte ein wenig Zeit für sich selbst, um «Gott näherzukommen», wie er sich ausdrückte. In der Folge war er völlig aus der Wahrnehmung der Öffentlichkeit verschwunden. Aber einigen wenigen Kurzberichten zufolge hatte er sich nach Norden begeben und die Zurückgezogenheit der Klöster im Wadi an-Natrun gesucht.
«Wie hat er das, was wir gesehen haben, überhaupt zeichnen können? Ich meine, wie würdet ihr es zeichnen?», argumentierte Gracie.
«Wir müssen uns eine Kopie von dem BB C-Film besorgen, von dem Bruder Amin erzählt hat», schlug Dalton vor.
Kurz vor Ende des Telefonats hatte Bruder Amin sie darauf hingewiesen, dass vor einigen Monaten ein britisches Filmteam das Kloster besucht und Material für eine mehrteilige Dokumentation gesammelt hatte, die dem dogmatischen Ansatz der westlichen Kirchen den mystischeren des Ostens gegenüberstellte. Es war dem Team gelungen, einen kurzen Blick in die Höhle zu werfen und ein paar Aufnahmen zu machen, Bruder Amin zufolge auch solche der bemalten Wände und Decken.
Genau so einen Beweis brauchte Gracie. Das Problem war nur, dass sie mit einer Anfrage bei der BBC womöglich schlafende Hunde wecken und die ganze Story aus der Hand geben würde. Eine Story, die im Moment noch exklusiv ihr gehörte.
Seufzend ließ sie sich auf das Sofa sinken. «Nein, das sollten wir noch nicht tun. Das Risiko ist zu groß.»
Finch nickte. «Und was hast du stattdessen vor?»
Im Grunde hatte ihre Entscheidung gestanden, noch bevor sie den Hörer aufgelegt hatte. Dennoch staunte Gracie selbst, sich sagen zu hören: «Hinfliegen.» Sie sah zwischen Finch und Dalton hin und her.
«Ich möchte die Geschichte glauben», erklärte sie. «Ich meine, wenn es nun stimmt? Könnt ihr euch das vorstellen? Wenn es stimmt, was er sagt, dann … Himmel.» Sie sprang auf, gestikulierte. Ihre Entscheidung hatte sie irgendwie befreit, neue Energien freigesetzt. «Ich habe keine Ahnung, was da eigentlich gerade vor sich geht, aber ob ihr wollt oder nicht, wir stecken mittendrin, wir sind Teil von … von etwas Außergewöhnlichem. Und die Story geht nicht hier weiter.Sondern in Ägypten. In diesem Kloster. Also muss ich dorthin.» Sie sah ihre Kollegen eindringlich an. «Ich meine, was sollen wir denn sonst machen? Wir können doch nicht ewig auf diesem Schiff bleiben. Und nach Hause können wir auf gar keinen Fall, solange diese Sache nicht geklärt ist.» Sie machte eine Pause, wartete auf eine Reaktion. Dann wiederholte sie: «Die Story geht in Ägypten weiter.»
Finch sah nachdenklich zu Dalton. Dann sah er sie an. Nach einer langen Pause lächelte er. «Also los. Obwohl die Kinder mal wieder enttäuscht sein werden.»
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