Menetekel
Finch hatte einen Sohn und eine Tochter im Grundschulalter. Er war zwar geschieden, verstand sich aber nach wie vor mit seiner Exfrau und hatte Weihnachten bei ihnen verbringen wollen.
Gracie erwiderte sein Lächeln schuldbewusst. Sie wusste, dass ihm die Entscheidung nicht leichtfiel. Sie selbst war Single, und Weihnachten und Silvester waren ihr ziemlich egal. Schon als Kind hatte sie die Feiertage gehasst, vor allem nach dem Tod ihrer Mutter. Das Wetter war kalt, die Tage kurz, wieder ging ein Jahr zu Ende, wieder war ein Jahr im Leben vorbei – sie fand das alles bedrückend. Sie sah zu Dalton. Auch er nickte.
«Dann rede ich mal mit dem Kapitän», sagte Finch. «Mal schauen, wie schnell er uns einen Hubschrauber besorgen kann. Fangt ihr zwei ruhig schon mal mit Packen an.»
Ein Produzent von geringerem Format hätte erst noch endlos debattiert und sich die Sache vom Sender absegnen lassen. Finch hingegen stand seinen Mann, und Gracie konnte nur froh sein, ihn auf ihrer Seite zu haben. Er sah siean, als könne er ihre Gedanken lesen, dann nickte er ihr zu und verließ den Raum.
Sie trat erneut ans Fenster und sah hinaus. Das Schelf fiel immer weiter in sich zusammen, aber von dem Zeichen war längst nichts mehr zu sehen. Ihr wurde ganz anders, wenn sie an das Entsetzen und die Ehrfurcht dachte, die der Anblick in ihr und den anderen ausgelöst hatte.
Dalton immer noch den Rücken zugewandt, fragte sie: «Was meinst du? Haben wir die richtige Entscheidung getroffen?»
Er trat neben sie. Sein Gesicht war ernster, als sie es je gesehen hatte.
«Wir reden hier von Pater Hieronymus», sagte er ohne eine Spur von Unsicherheit in der Stimme. «Wenn du ihm nicht glauben willst, wem dann?»
KAPITEL 20
BOSTON, MASSACHUSETTS
Matt lenkte den Mustang auf die Schnellstraße und fuhr Richtung City. Er rollte auf Autopilot dahin, ohne ein bestimmtes Ziel im Kopf zu haben, wollte nur ein bisschen Abstand zu den Typen im Chrysler gewinnen.
Er war völlig zerschlagen. In seinem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander, er wurde aus all dem, was seit Bellingers Anruf passiert war, einfach nicht schlau. Nach dem Adrenalinrausch, den das Präparieren des Chryslers ausgelöst hatte, zerfiel sein Körper jetzt regelrecht in seine Einzelteile. Er musste schlafen, musste das alles durchdenken, aber ihm fiel einfach kein Ort ein, wo er sich kurz aufs Ohr hauen konnte. Da war niemand, der ihn bei sich aufnehmen würde. Keine Freundin, kein Kumpel. Keine Exfrau, die noch ein bisschen was für ihn übrighatte.
Er war auf sich allein gestellt.
Eine Zeitlang blieb er auf der Schnellstraße, dann nahm er die Ausfahrt South Station und landete schließlich in einem Imbissrestaurant im Stil der 1950er Jahre an der EckeKneeland Street, dem einzigen Laden in der Stadt, von dem er wusste, dass er so spät noch geöffnet war.
Er sah ziemlich übel aus und zog beim Eintreten prompt Blicke auf sich, was gar nicht gut war. Das Letzte, was er im Moment gebrauchen konnte, war Aufmerksamkeit. Er verschwand auf der Toilette und brachte sich einigermaßen in Ordnung, dann setzte er sich auf einen Hocker am hintersten Ende der Bar. Er bestellte einen Kaffee und beschloss, auch noch einen Cheeseburger zu nehmen, da er keine Ahnung hatte, wann er wieder Gelegenheit haben würde, in Frieden zu essen. Vielleicht half ihm die Koffein- und Proteinspritze ja auch, bis Tagesanbruch wach zu bleiben.
Nach dem Sturz tat ihm noch immer alles weh, aber das Essen und der Kaffee brachten seine Gedanken einigermaßen zur Ruhe. Er ließ sich von der Bedienung nachschenken und ging seine Möglichkeiten durch. Er machte sich keine großen Hoffnungen, etwas für Bellinger tun zu können. Es lag auf der Hand, dass die Entführer auch etwas mit Dannys Schicksal zu tun hatten, und das waren keine Pfuscher. Er hatte es mit Profis zu tun, die bestens ausgerüstet waren und keine Skrupel kannten. Er dagegen konnte nicht viel unternehmen, weil er kein Stück mehr wusste, als Bellinger angedeutet hatte – dass Danny vielleicht noch lebte. Wenn er irgendjemanden, die Presse oder vielleicht sogar die Polizei, dazu bringen wollte, ihm zu helfen, dann musste er mehr zu bieten haben. Ihm fielen nur zwei Punkte ein, an denen er ansetzen konnte. Einmal der Peilsender. Und zum anderen Bellinger. Oder genauer gesagt sein Wissen, das ihn inihr Fadenkreuz gebracht hatte. Matt wollte gar nicht daran denken, in welcher Gefahr der harmlose Wissenschaftler jetzt schwebte; und es
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