Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
genommen.
Aber soweit war es also gekommen. Manchmal, wenn die Nachbarin, eine gewisse Deirdre Henderson aus Hull, anwesend war – auf der eigenen oder der Nachbarterrasse -, konnten es noch mehr werden. Und das besonders, wenn Mister Henderson und Karl-Erik sich auf dem Zwanzig-Loch-Golfplatz befanden. Es war so viel einfacher mit ein paar Gläsern im Leib, Englisch zu sprechen, es war sogar schon vorgekommen, dass Deirdre angefangen hatte, Deutsch zu sprechen.
Ich bin eine besoffene alte Handarbeitslehrerin, dachte sie häufig, wenn sie nach so einem Abend ins Bett wankte.
Und es gibt niemanden, den das interessiert. Außerdem hatte sie innerhalb eines halben Jahres fünf Kilo zugenommen.
Aber jetzt saß sie hier im Auto ohne einen Tropfen Málagawein im Blut. Nur ein paar beruhigende Tabletten – die sie schläfrig machen sollten, aber nicht taten. Das war wohl auch der Grund dafür, dass sie sich diesen Elch wünschte. Es war erst Viertel nach elf vormittags, und wie sie diesen Tag durchstehen sollte, daran wagte sie gar nicht zu denken. Die Beerdigung war auf drei Uhr festgesetzt. Anschließend Kaffee und Kuchen im Gemeindehaus. Danach ein kleines Essen in aller Schlichtheit mit der Familie im Hotel – und irgendwann, irgendwann nach dieser unendlichen Aneinanderreihung von Sekunden, Minuten, von Menschen, Stunden und unerträglichen Gedanken, irgendwann würde der Zusammenbruch kommen, das wusste sie. Es erschien ihr so unausweichlich wie ein … ja, wie ein Gewitter nach einem heißen Julitag am See Tisaren in Närke, wo sie einige der schönsten Sommer ihrer Kindheit verbracht hatte, aber woher kam nun wieder diese Erinnerung?
Der Tisaren? Wie witzig, dachte sie, dass mein Leben so früh im Zenit stand. Mit elf, zwölf Jahren, der Rest war eine abschüssige Ebene gewesen, ging es allen Menschen so? Beinhaltete der Verlust der Kindheit bereits den eigentlichen Tod?
Wieder diese sonderbaren Gedanken. Der eigentliche Tod? Vielleicht lag das an diesen Tabletten? Dass sie alle möglichen Fenster und Türen in der Seele öffneten, die eigentlich verschlossen bleiben sollten.
Sie sollte noch zwei weitere im Laufe des Tages nehmen, das war ihr von dem alten schwedischen Arzt verordnet worden, den sie aufgesucht hatte, er lebte bereits seit vierzig Jahren in Torremolinos, und er erinnerte sie an einen gealterten Gregory Peck … oder vielleicht Cary Grant, sie hatte schon immer Probleme gehabt, diese beiden Größen auseinanderzuhalten … aber bis jetzt hatten sie nicht geholfen, diese Tabletten, und sie hatte nur wenig Hoffnung, dass sie es noch tun würden.
Während also Karl-Erik leicht vorgebeugt über dem Lenkrad hing, vor sich hin murmelte und versuchte P1 im Autoradio zu finden, entschied sie sich für die doppelte Dosis. Komme, was da wolle, er würde sich nicht gerade darüber freuen, wenn sie zusammenbräche, ihr Karl-Erik. Aber am allerbesten wäre ein Elch. Wie schon gesagt. Peng, geradewegs in die Windschutzscheibe, und dann runter mit den Rollos für alle Zeit und Ewigkeit. Auf dem Weg zur Beerdigung des eigenen zerstückelten Sohnes zu sterben, das waren genau die richtigen Wünsche, die man an einen Gott richten konnte, an den man nicht glaubte.
Der junge Mann an der Rezeption trug Schlips und Haare im gleichen Farbton. Blass Karotte. Sie meinte ihn wiederzuerkennen, vermutlich handelte es sich um einen früheren Schüler. Die tauchten ja immer auf, sie fragte sich, ob er den Schlips nach der Haarfarbe gekauft hatte oder umgekehrt: sich später erst gefärbt hatte. Sieben junge Männer von zehn haben sich schon einmal die Haare gefärbt, das hatte sie in der Zeitschrift gelesen, die sie in der Sitztasche im Flugzeug gefunden hatte. Wobei sie sich fragte, ob das wohl stimmte.
»Mein aufrichtiges Beileid«, sagte er jedenfalls, und das klang, als hätte er es aus einem alten Film. Ihr kam der Gedanke, dass genau das ihr ausgezeichnet passen würde: dass all das hier nur ein alter Film wäre, den man nicht zu Ende sehen musste. Jeden Moment konnte man sich entscheiden, von dem unbequemen Stuhl aufzustehen und den Saal zu verlassen.
Sie erwiderte nichts. Karl-Erik schleppte eine Reisetasche hinter ihrem Rücken irgendwohin. Schien sich vor den Blicken des jungen Mannes unsichtbar machen zu wollen, vielleicht war es ja auch einer seiner alten Schüler, und vielleicht, kam ihr plötzlich in den Sinn, fühlte sich Karl-Erik genauso unwohl wie sie. Es war gar nicht seine Art, ihr das …
Weitere Kostenlose Bücher