Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
Kristoffer. »Ja, ich wollte dich etwas fragen.«
»Ja? Und was?«
»Es geht um diese Nacht.«
»Welche Nacht?«
»Die Nacht, in der Henrik verschwunden ist.«
Etwas passierte in ihrem Kopf. Ein Ton begann zu klingen, schrill und hartnäckig. Wie das Geräusch eines weit entfernten Sägeblatts, sie fragte sich, wieso. Sie hatte sicher seit zwanzig Jahren kein Sägeblatt mehr gehört.
»Ja?«
»Es gibt jemanden, der behauptet, dein Mann wäre zurückgekommen.«
»Was?«
»Der Portier im Hotel in Kymlinge. Er sagt, dein Mann sei mitten in der Nacht zurückgekommen. Ich dachte nur, ich wollte mal bei dir nachfragen.«
Offenbar verlor sie für ein paar Sekunden das Bewusstsein, doch sie fiel nicht. Spürte nur, wie ihr Blickfeld kleiner wurde und wie sie mit schneller Fahrt in einen langen, dunklen, sich zusammenziehenden Tunnel gezogen wurde. Und sah das Licht am anderen Ende. Die Sägeklinge erstarb.
»Hallo?«
»Ich bin noch da …«
Bin ich das wirklich?, dachte sie verwirrt. Bin ich wirklich noch da?
»Mehr ist eigentlich nicht«, fuhr Kristoffer fort und hustete etwas nervös in den Hörer. »Ich habe jedenfalls gedacht, ich frage mal.«
Das Blut kam zurück in die Schläfen gerauscht, sie konnte es regelrecht hören. »Ich verstehe«, sagte sie. »Rufst du aus Sundsvall an?«
»Nein«, erklärte Kristoffer. »Ich bin in Uppsala. Soll für eine Woche hier ein Praktikum machen, ich wohne bei Berit, das ist Papas Cousine …«
»In Uppsala?«
»Ja.«
Sie holte tief Luft. »Kristoffer, glaubst du … glaubst du, dass wir uns mal sehen könnten, du und ich? Irgendwann im Laufe der Woche. Du könntest ja abends den Zug nach Stockholm nehmen, oder ich könnte …«
»Ich komme«, sagte Kristoffer.
»Schön. Dann können wir irgendwo im Restaurant essen gehen und uns ein bisschen unterhalten. Ist das in Ordnung?«
»Ja, in Ordnung«, sagte Kristoffer. »Wann?«
Sie überlegte. »Dienstag?«
»Dienstag«, sagte Kristoffer. »Soll ich dich anrufen, wenn ich die Zeit weiß … ich meine, wann ich Arbeitsschluss habe und so?«
»Ja, tu das. Dann hole ich dich am Bahnhof ab.«
»Ja, danke. Dann erst mal tschüs«, sagte Kristoffer.
»Ja, tschüs.«
Sie ließ sich auf dem Flurteppich ihres toten Bruders niedersinken, sie hatte das Gefühl, ein wenig zu schwanken. Eine ganze Minute lang war ihr Bewusstsein leer wie ein ausgeschalteter Bildschirm. Wieso passiert das ausgerechnet jetzt?, dachte sie dann. Sieben Tage vor Thailand?
Am Totensonntag?
Als wäre der rachsüchtige und alles lenkende Clowngott plötzlich zu neuem Leben erwacht und hätte beschlossen, an ein paar weiteren Fäden zu ziehen.
Es gab eine alte Regel. Gunnar Barbarotti wusste nicht, wo er zum ersten Mal auf sie gestoßen war, doch das spielte auch keine Rolle.
Wenn du über etwas nicht aufhören kannst nachzudenken, dann musst du es anpacken.
Was ja nur stimmte. Wenn es nicht allzu große Anstrengungen erforderte, versuchte er meistens, sich daran zu halten. Und sei es nur um des eigenen Seelenfriedens willen.
Gewisse Dinge kosteten natürlich zu viel. Es gab genügend Fragen, über die Gunnar Barbarotti sich gern den Kopf zerbrach, aber sie wirklich anzupacken, hätte doch einen nicht zu unterschätzenden Einsatz bedeutet.
Das Wesen der Liebe, beispielsweise.
Oder der Palme-Mord.
Oder der Begriff Demokratie. War es wirklich angemessen, dass Leute, die auf die idiotischsten Reklamekampagnen hereinfielen, über das Schicksal des Landes entscheiden sollten? Die ihre Präsidenten nach deren Augenfarbe wählten und sich für Parlamentarier entschieden, wenn sie einen guten Herrenwitz zum Besten geben konnten?
Nein, das waren vielleicht gute Fragen, die aber kaum der Mühe wert waren, darüber nachzudenken. Das konnte sich doch jeder ausrechnen, sogar er. Es ging darum, seine Grenzen zu kennen.
Aber es ging auch darum, seine Möglichkeiten zu nutzen. Mit seinen Pfunden zu wuchern. Das war wie mit der alten Bitte um Gelassenheit. Gunnar Barbarotti war nie bei den Anonymen Alkoholikern gewesen, doch er hatte zwei Freunde, die dort gewesen waren.
Die immer noch dort waren, soweit er wusste, aber von ihnen wohnte keiner mehr in Kymlinge, und er hatte keinen Kontakt mehr zu ihnen.
Gott, gib mir die Gelassenheit, das zu akzeptieren, was ich nicht ändern kann.
Den Mut, das zu verändern, was ich verändern kann.
Und Verstand genug, zwischen beidem zu unterscheiden.
Eigentlich eine richtige Bitte für zehn Punkte, wenn er
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