Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
Aktualität gewonnen, nachdem der Mord an Ihrem Bruder im August aufgeklärt worden ist.«
»Ja?«
Mehr brachte sie nicht heraus. Er trank erneut einen Schluck und zog dann einen Stift aus der Brusttasche seiner Jacke, drehte ihn eine Weile in der Luft, während er überlegte und blicklos vor sich hin starrte.
»Sollte Henriks Verschwinden eine … sozusagen eine interne Lösung haben, dann hätte das ja unweigerlich gewisse Konsequenzen für die Ermittlungen.«
»Eine interne Lösung?«
»Ja.«
»Ich verstehe nicht richtig.«
»Entschuldigen Sie, ich drücke mich unklar aus. Was ich sagen will, ist, wenn Henrik beispielsweise ermordet worden ist und dies etwas mit der Situation in Ihrer Familie zu tun hat, dann könnte es doch sein, dass jemand … oder sogar mehrere … außer dem Mörder … darüber gewisse Kenntnisse haben.«
Während der letzten, etwas zerstückelten Behauptung sprach er übertrieben langsam und unterstrich außerdem das Stakkato, indem er vorsichtig mit dem Stift auf den Tisch klopfte. Sie musste sich automatisch fragen, ob er das trainiert hatte.
Und ob gedacht war, dass sie jetzt zusammenbräche. Ob er tatsächlich dasaß und darauf wartete, dass sie aufgeben und gestehen würde. Wahrscheinlich, dachte sie, wahrscheinlich läuft es darauf hinaus. Er glaubt, ich habe etwas zu verbergen, und er glaubt, dass er mich dazu bringen kann, zusammenzubrechen, indem er genau die richtigen Andeutungen von sich gibt.
Irgendwie gaben diese Gedanken ihr Kraft. Die Annahme, er unterschätze sie, reizte sie wiederum. Sie setzte sich aufrecht auf ihrem Stuhl hin und beugte sich ein wenig über den Tisch.
»Inspektor Barbarotti, ich muss Ihnen etwas gestehen.«
»Ja?«
»Ich verstehe überhaupt nicht, wovon Sie sprechen. Und auch nicht, warum Sie mich heute treffen wollten. Ich hatte den Eindruck gewonnen, es sei etwas Neues passiert, was Henrik betrifft, deshalb bin ich hergekommen. Aber bis jetzt …«
Er unterbrach sie, indem er eine Hand hob.
»Ich bitte noch einmal um Verzeihung. Aber Sie müssen die Spielregeln kennen.«
»Die Spielregeln?«
»Ja. Vergessen Sie bitte nicht, dass ich Polizeibeamter bin und dass ich die Umstände um das Verschwinden Ihres Neffen aufzuklären versuche. Deshalb will … oder kann … ich wahrscheinlich nicht alles auf den Tisch legen, was mir im Laufe der Ermittlungen zugetragen wurde. Meine Aufgabe ist es, die Wahrheit herauszubekommen, und es ist nicht immer sicher, dass es der Wahrheit dient, wenn man alle Karten auf den Tisch legt.«
Da merkte sie, dass sie tatsächlich dasaß und ihn anstarrte. Was zum Teufel redete er da? Brabbelte er nur irgendein Zeug dahin, oder wusste er wirklich etwas? Bluffte er? Hatte er deshalb die Kartenspielmetapher benutzt?
»Was um Himmels willen wollen Sie damit eigentlich sagen?«, fragte sie. »Und was soll ich dazu beitragen?«
»Ihr Mann«, sagte er, und sie hatte ein Gefühl, als drücke er plötzlich ihren Kopf unter Wasser. Mit einem Mal waren alle Kraft und jeder Wille zum Widerstand weggeblasen.
»Mein Mann?« Das Gefühl der Übelkeit nahm Gestalt an.
»Wie ist er eigentlich?«
Hätte sie die Elektroden eines Lügendetektors auf der Haut gehabt, wäre sie augenblicklich entlarvt worden. Sie spürte selbst, wie der Puls zu rasen begann und wie ihr ganz heiß an den Schläfen wurde. Warum bin ich auf so etwas nicht vorbereitet?, fragte sie sich. Genau dieser Angriff war doch das Einzige, was ich zu befürchten hatte. Warum fühle ich mich plötzlich vollkommen wehrlos?
»Ich liebe Jakob«, brachte sie krächzend heraus. »Warum zum Teufel fragen Sie nach ihm?«
Sie konnte nicht ausmachen, ob die Wut ihre Panik ausreichend kaschierte. Vielleicht ja, vielleicht auch nicht. Er betrachtete sie nachdenklich.
»Weil ich gewisse Informationen bekommen habe«, sagte er. »Informationen, auf die ich leider nicht näher eingehen kann.«
»Über Jakob?«
»Ja.«
»Und das ist alles, was Sie zu sagen haben?«
»Nicht ganz. Aber ich muss Sie fragen, ob Sie glauben, dass Ihr Mann imstande ist, jemanden zu töten?«
»Wie bitte?«
»Rein rhetorisch. In einer zugespitzten Situation? Was glauben Sie?«
Sie hatte darauf nicht geantwortet. Nur den Kopf geschüttelt und von ihrem Wasser getrunken. Gefragt, ob er noch weitere Unterstellungen habe oder ob sie gehen dürfe.
Er hatte ihr erklärt, dass es ihr freistehe zu gehen, es ihm aber leidtäte, wenn sie die Sache falsch auffasse. Sie hatte sich für das
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