Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
alle anderen Eltern.«
»Ich … ich glaube, das habe ich vergessen.«
Benita Ormson lachte auf. »Ja, das hast du bestimmt, meine liebe Ebba. Es gibt sicher das eine oder andere, was du auf dem Weg vergessen hast. Aber das geht uns allen so. Du bist da in bester Gesellschaft.«
»Ich habe keine Lust, in irgendeiner Gesellschaft zu sein.«
»Das kann ich mir denken. Du bist kein Gesellschaftsmensch, Ebba, aber in gewissen Situationen schafft man es allein nicht. Deshalb habe ich dir die Bibel mitgebracht.«
»Mein Gott, Benita, du weißt doch, dass ich …«
»Mit irgendjemandem musst du Kontakt haben, Ebba. Mit jemandem musst du sprechen. Du hast vierzig Jahre lang nur mit dir selbst Kontakt gehabt, und jetzt bist du erschöpft. Du musst entscheiden, andere Menschen oder der liebe Gott.«
»Ich bedanke mich für diese Art …«
Benita Ormson hob eine Hand, und Ebba unterbrach sich selbst. Nahm noch ein Bonbon und betrachtete ihre Freundin voller Skepsis. Es vergingen einige Sekunden.
»Schon gut«, sagte Benita Ormson. »Du ziehst es also vor, alle Türen geschlossen zu halten. Auch mir gegenüber. Aber das ist deine Entscheidung, Ebba, und es geht hier nur um dich. Ich bin nicht im Geringsten religiös, das weißt du. Vielleicht bin ich nicht einmal gläubig. Aber in diesem Buch sind zehntausend Jahre menschlicher Erfahrung gesammelt. Es ist keine Propagandaschrift, es ist Weisheit. Und was du brauchst, das ist Trost. Trost, Liebe und eine reichliche Dosis Gnade, es gibt nichts anderes, was dir helfen könnte. Alle anderen Fragen haben ganz einfach zu wenig Gewicht, ich glaube, du bist einsichtig genug, um das zu verstehen. Aber weise bist du nicht. Du bist verbohrt, Ebba, du hat beschlossen, dich mit Henrik in einem verschlossenen Raum zu verbarrikadieren, in einer engen Finsternis. Sieh zumindest zu, dass sie etwas größer wird, lass ein wenig Licht hinein. Aber noch einmal, du entscheidest, was du tust, und ich …«
»Und du?«
»Ich bin nur der Bote. Don’t shoot the messenger, Ebba.«
»Das ist mir schon klar.«
»Gut.«
»Die sind wirklich gut, diese Mariannen. Dass das schon so lange her ist … und dass es sie immer noch gibt.«
»Natürlich gibt es sie noch, Ebba.«
Schweigen. Langes Schweigen. Ein Pfleger kommt und öffnet die Tür einen Spalt. Schließt sie wieder, als er die beiden Frauen jeweils auf einer Seite des Bettes sitzen sieht.
»Woran denkst du, Ebba?«
»Ich denke … ich denke an Kristoffer. Entschuldige mich, Benita, aber ich glaube, ich muss eben meinen Mann anrufen.«
»Du weißt am besten, was du tun musst, Ebba. Heute wie an allen anderen Tagen.«
»Danke, Benita. Danke, dass du gekommen bist, aber ich muss das jetzt wirklich tun.«
»Natürlich, Ebba. Aber natürlich. Ich lasse dir die Bibel und die Marianne-Bonbons hier, und dann werde ich ein andermal wiederkommen.«
Irgendwie gelang es ihr, dagegenzuhalten.
Es verwunderte sie selbst, dass sie es schaffte. Dass es ihr trotz Jakobs mehr oder weniger zielgerichteter Attacken gelang. Vielleicht lag es daran, dass sie nüchtern war, ganz einfach. Jakob trank Laphroaigh, ein Glas nach dem anderen, seine Stimme wurde immer lauter, aber er brauste nicht auf. Die Ruhe war in ihm, lag wie eine Kobra im Sonnenschein da und wartete. Das ist sein Problem, dachte sie, das Problem seines Lebens. Dass er seine Gefühle lagern kann, eins auf das andere, bis er plötzlich ganz ausgefüllt ist von ihnen und explodiert.
Aber diese Explosionen waren auch auf eigentümliche Weise kalt. Berechnend. Er verlor nie die Kontrolle, nicht wirklich. Selbst als er Henrik tötete, hatte er die Kontrolle darüber behalten, was er da tat.
Selbst damals. Wenn sie es sich recht überlegte, war das wohl das Widerlichste. Die Kontrolle. Diese unmenschliche Ruhe.
»Was hast du von ihm gehalten?«, fragte er jetzt.
»Von wem?«
»Von dem Bullen. Als er im Januar hier war?«
Es war Viertel nach elf. Sie saßen in den Sesseln vor dem Kamin. Kelvin schlief seit zwei Stunden oben in seinem Bett. Jakob zündete sich einen schwarzen Zigarillo an. Barrinque, das war die einzige Marke, die er rauchte. Extra nur für ihn von einem kleinen Geschäft in der Hornsgatan importiert.
»Ich kann mich kaum noch an ihn erinnern. Jakob, können wir nicht über etwas anderes reden?«
»Und über was dann?«
»Vielleicht über Thailand? Wir müssen ja wohl morgen in die Stadt und uns Reiseführer kaufen, oder?«
»Habe ich schon gemacht. War bei
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