Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
einen Wortschatz, der die Anzahl der Moleküle im Universum weit überschritt, aber gleichzeitig war auch er nicht ungeschickt, wenn es um die Pirouetten des Schweigens ging – und wer nun letztendlich die meisten Siege davongetragen hatte, das konnte eigentlich auch vollkommen gleich sein.
Aber vielleicht stimmte es ja doch, was Vera Ragnebjörk einmal gesagt hatte: Es gab auch Duelle mit zwei Verlierern. Vielleicht war das die üblichste Form. Lange, sich dahinziehende Duelle, die so trist und in ihrer Form so alltäglich abliefen, dass man kaum noch bemerkte, dass sie vonstatten gingen.
Sie hatte sich nachmittags eine halbe Stunde Siesta gegönnt, und während dieser wohlverdienten Ruhepause hatte sie wieder geträumt, dass einer von ihnen sterben müsse. Sie hatten sich auf einer Insel befunden, umgeben von smaragdgrünem Wasser – wahrscheinlich war es Walters verdammtes Koh Fuk, das da noch herumspukte -, und es ging ums Überleben. Er oder sie. Karl-Erik oder Rosemarie. Sie hatten sich einer Art von Kräftemessen genähert, dem entscheidenden Schlag in einem alten Krieg mit höchst unklaren Voraussetzungen und Regeln – und mit ganz anderen Waffen als Schweigen und Blicke -, aber bis jetzt blieb es bei den Vorbereitungen, sie war aufgewacht, lange bevor es an der Zeit war, den ersten Stoß zu setzen oder den Ausfall des anderen zu parieren.
Aber der Gedanke lebte in ihr weiter. Er schwebte wie ein quallenartiges, diffuses Plasma in der halb durchscheinenden Schicht zwischen dem Wahrnehmbaren und dem nicht Wahrnehmbaren im Meer ihres Bewusstseins.
Was?, dachte sie verwirrt. War ich es, die so etwas gedacht hat?
Selbstgemachte Frikadellen. Geräucherter Lachs. Ein langweiliger grüner Salat mit fertig gekauftem, französischem Dressing. Zwei Pasteten. Ein großer Kartoffelsalat. Hälften von Ei mit rotem und schwarzem Eismeerrogen.
Gott, wie phantasielos, stellte sie fest und überschaute die Lage. Doch es füllte zumindest den Küchentisch, und das erst recht, wenn sie noch Brot und den großen Cheddarkäse dazustellte. Aber es war ja Karl-Eriks Arrangement. Sowohl was den Montagabend als auch, was den Dienstag betraf. Er war derjenige, der 65 Jahre alt wurde, nicht sie. Kein gedeckter Esstisch im Speisezimmer heute Abend, das sollte für die morgige große Sitzung aufgespart werden. Die kleinen warmen Gerichte konnte man in Sesseln und Sofas im Wohnzimmer zu sich nehmen. Ganz formlos und familiär. Dabei nette Unterhaltung über dies und das. Über das Jahr, das hinter ihnen lag. Die Mühen des Herbstes, aber nicht das Fernsehen durchkauen, Gott bewahre. Lieber das Leben als solches betrachten. Karl-Erik konnte seine nunmehr abgeschlossenen pädagogischen Taten mittels erhellender, humoristischer Anekdoten bedenken. Ellinor Bengtssons Sonderaufgabe über Rote Beete von 1974. Das Feuer in der Kirche während der Luciafeier 1969, als eine der Jungfrauen kahlköpfig wie ein Schwendeland wurde. Studienrat Nilssons Autogeschäfte, mein Gott, sie hoffte, dass er zumindest Studienrat Nilsson aus dem Spiel lassen würde. Ebenso wie die Peinlichkeiten des stellvertretenden Schulleiters Grunderins in Zusammenhang mit der Abstimmung über die Atomkraft 1980.
Und während sie dort stand und ihren Blick zwischen dem traurigen Salat und der massiven Finsternis vor dem Küchenfenster hin und her wandern ließ, tauchte erneut Walter in ihrem Kopf als eine noch dunklere Wolke auf, und plötzlich wünschte sie sich mit aller Kraft, dass all das hier, ihr gesamtes Leben, nur ein alter englischer Landadelfilm wäre, in dem sie ohne weiteres hinaufgehen und sich schlafen legen könnte, eine Migräne oder eine andere nette Unpässlichkeit vortäuschend, um dann so lange im Bett zu bleiben, wie sie wollte.
Oder dass sie zu ihrer Schwester nach Argentinien fliehen und sich dort für alle Zeiten verstecken könnte. Aber mit der hatte sie seit mehr als zehn Jahren nicht gesprochen. Rosemarie und Regina waren gemeinsam mit ihren Eltern nach Schweden gekommen, als sie sieben beziehungsweise zwölf Jahre alt waren, vier Jahre nach dem Krieg. Auf Gedeih und Verderb hatte die Familie ein bombenzerstörtes Hamburg verlassen, und es war ihr gelungen, in Schweden Wurzeln zu schlagen. Zunächst in Malmö, später weiter das Land hinauf. Växjö, Jönköping, Örebro. Aber Regina hatte sich nie zurechtgefunden; sie hatte Elternhaus und Land verlassen, sobald sie achtzehn wurde, und dabei war es geblieben. Als ihre Mutter Bärbel 1980
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