Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
starb, hatte man sich bei der Beerdigung gesehen; als der Vater Heinrich zwei Jahre später an der Reihe war, war sie gar nicht gekommen.
Aber sie wohnte jetzt seit zehn Jahren in Buenos Aires, jedes Jahr kam eine Weihnachtskarte von ihr. Keine Geburtstagsgrüße, nur Weihnachtskarten.
Buenos Aires, dachte Rosemarie Wunderlich Hermansson. Konnte man sich etwas Abgelegeneres denken? Konnte man sich ein besseres Versteck vorstellen?
Sie spürte, dass sie in den gleichen Spuren stapfte wie Karl-Erik, wenn er Spaniens rote Erde pflügte, und brummte verärgert über ihre eigenen Gedanken vor sich hin.
Stellte dabei fest, dass sie auf Deutsch brummte. Das lag natürlich daran, weil sie an ihre Familie dachte. Sie hatte nie eine Ausbildung zur Deutschlehrerin gemacht. Karl-Erik war derjenige gewesen, der vorgeschlagen hatte, sie solle es doch versuchen, als Mitte der Achtzigerjahre eine Stelle frei war und es der Schulleitung nicht gelang, jemand Entsprechenden zu finden. Wo sie die Sprache doch sowieso von Kindesbeinen an beherrschte.
Und so wurde sie Deutschlehrerin.
Was sie jetzt nicht mehr war, erinnerte sie sich. Das Ende des Weges hatte sie vor drei Tagen erreicht. Was hatte sie noch vor gar nicht langer Zeit gedacht? Etwas Wichtiges oder vielleicht auch nur …
Karl-Erik kam in die Küche, um zu inspizieren.
»Sieht gut aus«, stellte er fest. »Und wo willst du das Bier hinstellen?«
»Auf die Anrichte«, sagte sie. »Aber es soll doch wahrscheinlich kalt sein, oder? Darum habe ich es noch nicht herausgeholt.«
»Ja, natürlich. Ich wollte nur wissen, wo es stehen soll.«
»Ach so«, nickte sie. »Ja, da also.«
»Ja, genau«, stimmte ihr 64 Jahre und 364 Tage alter Ehemann zu und ging ins Badezimmer, um sich den Schlips zu binden.
Ebba traf als Erste ein. Mit ihrem Supermarktleiter und ihren Teenagersöhnen. Rosemarie wurde beim Begrüßungsritual plötzlich verlegen, die Jungen erschienen ihr viel erwachsener, als sie gedacht hatte. Aber da sie Ebba umarmt hatte, umarmte sie auch Kristoffer, der schüchterner und verzagter wirkte als je zuvor, und zum Schluss auch Henrik und Leif. Henrik hatte seinen Vater in der Länge überholt, er musste mehr als eins neunzig messen, wie lange hatte sie die Familie nicht gesehen? Anderthalb Jahre? Henrik hatte die Augen und die Nase von seiner Mutter und Karl-Erik geerbt. Rosemarie sah eine schwindelerregende Sekunde lang ein, dass er fast genauso aussah, wie Karl-Erik ausgesehen hatte, als sie ihn vor fast einem halben Jahrhundert das erste Mal bei dem Schulfest auf Karro getroffen hatte. Eine Reprise von Karl-Erik Hermansson? Mein Gott. Das war ein in vielerlei Hinsicht schrecklicher Gedanke, aber glücklicherweise blieb keine Zeit, ihn zu vertiefen. Karl-Erik der Erste stand im Wohnzimmer und empfing die Gäste, hier gab es keine Umarmungen, nur feste, ritterliche Handschläge, während er ein Mitglied der Hermansson-Grundtschen-Familie nach dem anderen prüfend musterte. Auf Armlänge Abstand, da er zu eitel war, um seine Brille zu tragen, wenn es nicht unbedingt sein musste – und mit seinem üblichen, verkniffenen Lächeln. Als Kristoffer an der Reihe war, konnte Rosemarie sehen, dass er kurz davor war, ein »Rücken grade, mein Junge!« zu schnarren, aber er unterließ es, alles zu seiner Zeit, sogar die Zurechtweisungen.
»So, das hätten wir also«, erklärte Leif Grundt unergründlicherweise. »Dann bringen wir unsere Siebensachen und die Geschenke nach oben, nehme ich mal an? Schön, da zu sein. Siebenhundert Kilometer sind nun einmal siebenhundert Kilometer, wie es im Koran steht.«
»War es glatt?«, fragte Karl-Erik.
»Nicht wirklich«, antwortete Leif.
»Viel Verkehr?«, fragte Rosemarie.
»Ja, wirklich«, antwortete Leif.
»Viel zu tun bei den Chirurgen, wie ich mir denken kann«, sagte Karl-Erik.
»Man muss die Verantwortung delegieren können«, sagte Ebba.
»Wie wahr«, stimmte Leif Grundt zu. »Ich habe letzte Woche vier Tonnen Schweinepopos delegiert.«
»Schweinepopos?«, wunderte sich Rosemarie, da sie annahm, dass diese Nachfrage erwartet wurde.
»Weihnachtsschinken«, sagte Leif Grundt und grinste dazu.
»Entschuldigt mich, ich muss mal«, flüsterte Kristoffer.
»Aber natürlich«, nickte Rosemarie geschäftig. »Und dann rauf in die Zimmer mit euch. Wie immer, ich hoffe, Henrik ist nicht zu groß fürs Bett geworden.«
»Kein Problem«, erwiderte Henrik und lächelte seine Großmutter freundlich an. »Ich bin an
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