Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
gestellt hatte, fiel ihm ein, was für ein Tag heute war.
Der Hundertfünfertag.
Fünfundsechzig für ihn selbst. Vierzig für Ebba.
Und dann wachten zehntausend andere Dinge gleichzeitig in ihm auf. Estepona. Rosemarie. Die rissige Haut an seinem linken Fuß. Aber Scheiß drauf, in Andalusien gab es keine rissige Haut. Muy bien. Whisky. Whisky? Ja, genau, dieser rauchige Angeberwhisky, den Kristinas Kerl angeschleppt hatte und dessen Geschmack er immer noch am Gaumen spüren konnte. Lundgren in der Bank, der tauchte auch auf, und der gehörte wohl auch dazu. Zu den Sachen, die er zu bedenken hatte. Das Papier, das am Mittwochnachmittag unterschrieben werden sollte, das war ja schon morgen, und diese aufgeblasene Familie, die hier einziehen wollte, er konnte drauf schwören, dass weder der Mann noch die Frau auch nur drei Minister mit Namen nennen konnten oder aber zwei schwedische Erfinder, die Bedeutung für die industrielle Entwicklung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert gehabt hatten. Kretins. Es würde schön werden, dieses geschichtslose Land zu verlassen. Wirklich schön; obwohl er im Augenblick selbst nicht drauf kam, wie Familie Aufgeblasen eigentlich hieß. Aber das war ja auch gleich, oder nicht?
Walter.
Walter. Nein, weg mit dem.
Rosemarie stattdessen. Kein Kommentar. Nein, zurück zu der frischen rissigen Haut an seinem linken Fuß, was sicher verschwinden würde, sobald er ihn auf Spaniens rote Erde setzte … ja, natürlich nicht der Fuß, sondern die rissige Haut. Karl-Erik Hermansson war immer sehr genau gewesen mit den Bezügen, selbst in seinen Gedanken … und dann wieder Walter.
Weg. Meine Gedanken habe eine andere Struktur zu dieser Tageszeit, stellte Karl-Erik Hermansson etwas verwundert fest, und es fiel ihm nichts anderes ein, als auf der Bettkante sitzen zu bleiben und das Bild mit dem Schloss von Örebro zu betrachten, das er bei einem Kreuzworträtselpreisausschreiben 1977 gewonnen hatte. Rosemarie hatte es nicht aufhängen wollen, aber nachdem er ihr erklärt hatte, welch außerordentlich wichtige Rolle das Schloss in der schwedischen Geschichte gespielt hatte, musste sie natürlich nachgeben.
Wieder Walter. Na gut, na gut. Der verlorene Sohn. Er hatte beschlossen, das große Gespräch mit ihm bereits am gestrigen Abend zu führen – um es hinter sich zu bringen -, aber dazu war es nicht gekommen. Zu viele Leute und keine passende Gelegenheit, ganz einfach. Und Whisky. Also musste er dafür sorgen, dass es heute stattfand. Möglichst so früh, wie es ging. Auf jeden Fall bevor man sich zum Geburtstagsessen zu Tisch begab. Es gab Dinge, denen konnte man nicht ausweichen.
Das Gespräch zwischen Vater und Sohn. Großer Vater und kleiner Sohn, genau so sah er es vor seinem inneren Auge geschrieben. Merkwürdig, aber es war etwas dran. Aber Gespräch war das falsche Wort, gerade ein Gespräch sollte es ja nicht werden; worum es ging, wenn man es genau betrachtete, war doch, einen Standpunkt klarzustellen. Dass man … die Gedanken drehten sich einen Moment lang im Kreis, bevor sie einen Halt fanden … dass man sich am absoluten Nullpunkt befand.
Schlimmer konnte es nicht mehr werden. Genau so würde er es formulieren. Nullpunkt , das war gut. Das verhinderte schon im Vorhinein, daß man über die Sache sprechen musste. Die Schande, die Walter über die Familie gebracht hatte, würde ihr ein Leben lang anhängen … nein, er wollte keinerlei Entschuldigungen oder Erklärungen hören. Das, was Walter getan hatte, ließ sich nicht relativieren, nein, nein und nochmals nein, wir hatten weiß Gott keinerlei Pläne, das Land zu verlassen, Mama und ich, das hatten wir nicht, aber nach all dem gibt es keinen anderen Ausweg mehr für uns. Eine andere Möglichkeit sehen wir nicht.
Schande, Walter, würde er sagen, in den Sumpf der Schande hast du uns gestoßen, und damit werden wir leben müssen, und jetzt will ich kein Wort mehr über diese Sache fallen lassen.
Angelegenheit? Sollte er lieber sagen, »in dieser Angelegenheit«? Nein, Sache, das war besser. Angelegenheit, das klang so … ja, er wusste es selbst auch nicht so genau.
Er stand auf und ging ins Badezimmer. Setzte sich auf die Toilettenbrille und pinkelte. Seit mehr als zehn Jahren pinkelte er morgens immer im Sitzen, das wollte er gar nicht leugnen. Aber nur morgens. Heute lief es noch langsamer als sonst, vielleicht lag es am ungewohnten Zeitpunkt, es kam noch nicht so recht ins Fließen, aber er konnte die gesamte
Weitere Kostenlose Bücher