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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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europäischen Verbündeten verpflichtet; das war eine der Bedingungen gewesen, welche die Europäer im Zuge des Doppelbeschlusses vom Dezember 1979 durchgesetzt hatten. Vor allem die Regierungen Italiens, Hollands, Belgiens und Deutschlands, also jener Länder, die sich für den Fall eines Scheiterns der INF-Verhandlungen
verpflichtet hatten, von Dezember 1983 an amerikanische eurostrategische Waffen (nukleare Pershing II) und Marschflugkörper (Cruise Missiles) auf ihrem Territorium zu stationieren, hatten das dringendste Interesse an ständigen Konsultationen. Sie hatten erhebliche innenpolitische Auseinandersetzungen über den Fall der Stationierung durchzustehen, und für den Fall der tatsächlichen Nachrüstung standen ihnen noch wesentlich heftigere Proteste ins Haus. Im entscheidenden Moment mußten diese Regierungen deshalb in der Lage sein, ihren Parlamenten und ihrer Öffentlichkeit mit innerer Überzeugung erklären zu können, daß der Westen alles Zumutbare versucht habe, zu einer Verständigung zu kommen, daß man aber an der Intransigenz der Sowjetunion gescheitert sei. Wichtiger noch war ihr vitales Interesse an der sogenannten Null-Lösung, also an der Beseitigung der sowjetischen SS 20 und einem Verzicht auf deren amerikanisches Gegenstück, Pershing II und Cruise Missiles.
    Diese Null-Lösung – Nitze nannte sie intern die Null-Null-Lösung, um ihre Gleichgewichtigkeit für beide Seiten zu betonen – hatten wir in Bonn konzipiert; ich hatte sie erstmals im Dezember 1979 und dann mehrfach öffentlich vorgetragen. Reagan hatte sie sich 1981 öffentlich zu eigen gemacht, wofür ich ihm dankbar war. Die Formel, die Nitze während eines Waldspazierganges mit Kwizinski in Genf entwickelte, wich von dieser optimalen Lösung ab; aber sie hätte eine wesentliche Verringerung der Gefährdung Europas mit sich gebracht, ohne die Gleichgewichtigkeit zu verletzen. Ich selbst hätte sie sofort akzeptiert, wenn ich sie gekannt hätte. Aber auch über den Waldspaziergang wurden weder die Bundesregierung noch die übrigen betroffenen Regierungen Europas unterrichtet oder gar befragt (ob dies auch für die Nuklearmacht England zutraf, die sich für den Fall des Scheiterns der Gespräche gleichfalls zur Stationierung von amerikanischen Cruise Missiles verpflichtet hatte, ist mir nicht bekannt). Statt dessen hörten wir aus Amerika entschiedene Kritik an den Friedensbewegungen, die sich vor allem in Deutschland, Holland und England, hoch emotionalisiert, gegen die Möglichkeit einer Stationierung amerikanischer Raketen und Marschflugkörper zur Wehr
setzten. Wiederholt fragte man uns, ob wir denn weiterhin zum Doppelbeschluß stünden, und Washington konstatierte mit Besorgnis, daß meine eigene Partei nur noch höchst widerwillig daran festhielt.
    Am 15. September 1982 sah ich mich auf Grund der immer weniger zu verkennenden Zweideutigkeit des Ministers Genscher und wegen öffentlicher Illoyalität des Ministers Lambsdorff gezwungen, die FDP-Minister zu entlassen. Diese waren ihrerseits in ihrem Wunsch nach Koalitionswechsel durch das Nachlassen des sicherheitspolitischen Zusammenhalts der Sozialdemokratie bestärkt worden. Damit war der Sturz der Regierung, der am 1. Oktober erfolgte, unvermeidlich geworden. Aber erst Wochen später erfuhr ich, nunmehr Abgeordneter der Opposition, von der Existenz der sogenannten Nitze-Formel, vom Waldspaziergang und von Washingtons und Moskaus Ablehnung.
    Es lag auf der Hand, daß jetzt kaum noch die Wahrscheinlichkeit einer Einigung bestand und daß es bis zum Herbst 1983 nicht mehr zu einem Abkommen kommen würde. Aus der bisherigen Eventuallösung der Stationierung amerikanischer INF in Europa würde aller Voraussicht nach Wirklichkeit werden. Trotz dieser schweren Verletzung ihrer Konsultationspflicht durch die USA habe ich mich – gemeinsam mit einigen grundsatztreuen sozialdemokratischen Freunden – auch nach meinem Ausscheiden aus der Regierung öffentlich für die Stationierung eingesetzt, weil ich die Aufrechterhaltung des Gleichgewichtsprinzips für überragend wichtig hielt. Falls es doch noch – wie es gegenwärtig, im Frühjahr 1987, denkbar erscheint – zu einer beiderseitigen Null-Lösung für das INF-Problem kommen sollte, werden wir uns sehr gerechtfertigt fühlen.
    Die amerikanischen Zeitungsmeldungen, aus denen die Verbündeten Washingtons im Herbst 1982 nachträglich über die Vorgänge in Genf aufgeklärt wurden, beruhten nicht auf einer offiziellen

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