Menschen und Maechte
Ausfluß der von demokratischen Verfassungen gewollten Volkssouveränität. Aber stimmungsdemokratische Politik sollte ihre Grenzen haben. Nicht zuletzt deshalb sehen unsere Verfassungen ja eine repräsentative Demokratie vor; sonst gäbe es permanente Volksentscheide. Ich erinnere mich an meine Beschämung, als die SPD-Opposition Mitte der sechziger Jahre einmal den Bundestag aus den Sommerferien holte, weil es dem Boulevardblatt »Bild«
gelungen war, wegen einer relativ unerheblichen Postgebührenerhöhung durch die Regierung Erhard eine Massenhysterie zu erzeugen.
Ein anderes warnendes Beispiel war die Reaktion Carters auf die im Herbst 1979 von den Medien breit ausgewalzte Behauptung, die Sowjetunion habe eine zusätzliche »Kampfbrigade« in Kuba installiert. Wenngleich Kuba in der Tat seit langem – wie auch heute noch – beträchtliche militärische Hilfe von der Sowjetunion empfing, so konnte doch keine Rede von der Stationierung einer neuen Brigade sein. Natürlich besaßen die amerikanischen Geheimdienste und damit der Präsident vollen Überblick über die Lage. Aber die Stimmungsmache der Medien zwang Jimmy Carter zu aufwendigen politischen Aktivitäten.
Umgekehrt benutzen selbstbewußte Präsidenten das Fernsehen und sein Publikum, um ihre Politik plausibel, akzeptabel und wenn möglich populär zu machen; das gilt in den USA ebenso wie bei uns – und es gilt keineswegs nur für die Wahlkämpfe, die in den westlichen Industriegesellschaften inzwischen weitgehend zu Fernsehwettkämpfen geworden sind. Natürlich kann ein mit dem Medium Fernsehen souverän umgehender Staatsmann seinerseits Themen vorgeben und Stimmungen erzeugen. Reagan ist darin ein Meister. Aber es kann auf diesem Wege zu einer sich gegenseitig steigernden Wechselwirkung zwischen Fernsehpublikum und Präsident kommen, die auf eine ganz und gar schädliche Simplifizierung der wirklichen Probleme hinausläuft. Je größer der fernsehpublizistische Erfolg Reagans war, desto unverblümter stellte er seine außen- und sicherheitspolitische Strategie auf die amerikanische Publikumswirkung ab. Sein Eingreifen in Libyen im Herbst 1981 und erneut im Frühjahr 1986, seine Maßnahmen gegen den Libanon, Nicaragua oder Grenada waren deutliche Beispiele dafür; ebenso aber der Verzicht auf eine entschiedene Stellungnahme zu der blutigen südafrikanischen Apartheidspolitik oder seine Abstinenz hinsichtlich Israels Einmarsch im Libanon. Reagan gab der ohnehin stark ausgeprägten amerikanischen Neigung zur Schwarzweißmalerei ohne Bedenken nach; er selbst ist in hohem Maße von solchem Freund-Feind-Denken geprägt. Dies
fand und findet seinen stärksten Ausdruck in seiner Politik gegenüber der Sowjetunion.
Als Reagan die Sowjetunion öffentlich das Reich des Bösen (»evil empire«) nannte, sprach aus seinem Munde nicht nur der hochbegabte Populist, sondern auch seine ganz persönliche Sicht der Dinge. Der Erfolg beim amerikanischen Massenpublikum war groß – aber ebenso groß wurden die Sorgen anderer, daß solcher Sprache auch entsprechendes Handeln folgen könnte. Reagan und seine früheren Mitarbeiter Kirkpatrick, Regan, Clark nahmen – und nehmen, wie heute noch Weinberger – auf europäische Besorgnisse wenig Rücksicht, nicht so sehr aus deren Mißachtung als vielmehr aus Unkenntnis Europas. Was in Reagans Augen und in den Augen seines Publikums gut ist für Amerika, das muß zwangsläufig auch gut sein für Europa.
Diese Ansicht prägte seine Einstellung von seinem zweiten Amtsjahr an immer stärker; und immer unverhüllter wurde auch seine Erwartung, das zunächst unpräzis ins Auge gefaßte SDI-Projekt liege im gemeinsamen Interesse der westlichen Allianz und die Partner Washingtons würden den Plänen in dieser Richtung daher sogleich mit Begeisterung zustimmen. Dabei wurde in Washington völlig übersehen, daß vor der Verkündung des SDI-Programms die Verbündeten nicht einmal informiert, geschweige denn befragt worden waren. Auch nachträglich gab es hinsichtlich der Nutzung des Weltraums zur Kriegführung keine gemeinsame Analyse und Entscheidung der Allianz.
Ähnlich stand es mit der noch in meine Regierungszeit fallenden Entscheidung Reagans, die während der Genfer INF-Verhandlungen im Juli 1982 greifbar gewordene Chance eines Abkommens über die Begrenzung der nuklearen eurostrategischen Mittelstrekkenwaffen zu verwerfen. Dabei war Washington in allen Phasen der Genfer Gespräche zu engen Konsultationen mit seinen
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