Menschen und Maechte
Unterrichtung der Presse durch die amerikanische Regierung, sondern auf Indiskretion. Möglicherweise hatte diese das Ziel, die Ablehnung der Nitzeschen Formel durch das Weiße Haus irreversibel zu machen; die ganze Episode sollte in den Augen der amerikanischen
öffentlichen Meinung als unwichtig erscheinen, weshalb man gleichzeitig auch die sowjetische Ablehnung des Waldspazierganges durchsickern ließ. Später ging man sogar so weit, die Vermutung nahezulegen, die amerikanische Ablehnung sei erst auf Grund einer vorausgegangenen sowjetischen Ablehnung beschlossen worden. Der tatsächliche Hergang scheint jedoch anders gewesen zu sein. Der nationale Sicherheitsrat im Weißen Haus (NSC) hat sich in Wirklichkeit zweimal mit dem Waldspaziergang befaßt; erst bei der zweiten Sitzung brachte der in der ersten Sitzung abwesende Ministerialdirektor im Pentagon, Richard Perle, die Ablehnung zustande – und zwar ausschließlich aus nationalen militärstrategischen Interessen, wie er und sein Minister Weinberger sie sahen. Heute glaube ich, daß sowohl Weinberger als auch Perle die Pershings II und die Cruise Missiles auf jeden Fall in Europa haben wollten. Davon abgesehen war die Stationierung für manche Leute in der Reagan-Administration inzwischen zu einer Prestigefrage geworden.
Nachdem die Chance des Waldspazierganges vertan worden war, ist es von beiden Seiten zu keinen weiteren ernsthaften Einigungsversuchen bei den Genfer INF-Verhandlungen gekommen; die Stationierung wurde deshalb – der zweiten Hälfte des Doppelbeschlusses entsprechend – Ende 1983 unausweichlich. Allerdings hoffte die sowjetische Führung, mittels einer mit erheblichem Aufwand und großem psychologischem Geschick betriebenen Propagandakampagne die westeuropäischen Friedensbewegungen mobilisieren zu können, um die Stationierung der amerikanischen Pershings II und Cruise Missiles doch noch zu verhindern. Damit scheiterte sie, und die gegen alle Erwartung des Kremls erfolgte Stationierung ist ohne Zweifel ein entscheidender Grund für die späteren Abrüstungsinitiativen Gorbatschows, vor allem für seinen Vorschlag Ende 1986 in Reykjavik. Nicht das SDI-Programm, das die Sowjets unter anderem Namen parallel zu den Amerikanern ja ebenfalls entwickeln, sondern die Tatsache, daß sowjetische Ziele erstmals von in Europa stationierten amerikanischen (»eurostrategischen«) Nuklearwaffen bedroht sind, hat Gorbatschow dazu gebracht, ernsthafte Initiativen zur Rüstungsbegrenzung
auf den Tisch zu legen, wobei seine Hoffnungen auf ökonomisches Wachstum sicherlich eine ebenso wichtige Rolle spielten.
Washington neigt zum Unilateralismus – wer auch immer dort regiert. Solange Westeuropa sich nicht zu einem gemeinsamen gesamtstrategischen Entwurf durchringen und diesen geschlossen vertreten kann, wird es immer wieder mit amerikanischen Alleingängen konfrontiert werden. Wenn dann noch die Empörung der amerikanischen Medien hinzukommt, weil die europäischen Regierungen und Parlamente oder die öffentliche Meinung Europas nicht unverzüglich Zustimmung und Beifall bekunden, wird es in Westeuropa auch öfter Stimmungen von »Antiamerikanismus« geben – was die Amerikaner gar nicht verstehen können, weil sie nicht sehen, wie sehr sie selbst Mißtrauen provozieren.
Die amerikanische Politik gegenüber dem Rest der Welt ist geprägt von Idealismus, Romantik und dem Glauben an die eigene Kraft und Größe: Wenn der Rest der Welt den Idealen der Amerikaner und deren Methoden zu ihrer Verwirklichung nicht entspricht, um so schlimmer für den Rest der Welt! Angesichts dieser Einstellung kam es in der amerikanischen Geschichte immer wieder zu zwei entgegengesetzten Konsequenzen: Entweder entschloß sich Amerika, der Welt notfalls mit militärischem Aufwand eine bessere Ordnung zu geben, um Unordnung, Ungerechtigkeit oder Unterdrückung aus der Welt zu schaffen – oder Amerika entschied sich dafür, dem Rest der Welt den Rücken zu kehren und sich auf seinen unermeßlich großen und reichen Kontinent zu konzentrieren, mit anderen Worten: für Isolationismus und Monroedoktrin.
Während des 19. Jahrhunderts hat zumeist der isolationistische Grundtrend überwogen. Im Ersten Weltkrieg kam zum ersten Mal der missionarische Eifer zum Zuge; aber schon 1919 wurde Woodrow Wilsons altruistischer Idealismus gestoppt, und die USA verweigerten sich der Mitgliedschaft in dem von ihm mitbegründeten Völkerbund.
Die Verbrechen Hitlers, sein Griff nach der
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