Menschen und Maechte
Hu Yaobang sind Reformer wie er selbst. Ohne Zweifel stehen die gegenwärtigen Mehrheiten im Politbüro und im Zentralkomitee auf der Seite der Reform.
Zweifel an der Kontinuität bleiben dennoch bestehen. Zum Beispiel waren die Reformer erschreckt von dem großen, eine unvorhergesehene Dynamik annehmenden Widerhall, den die Kampagne »gegen die geistige Umweltverschmutzung« fand, die sie doch selbst in Gang gesetzt hatten und daraufhin schleunigst wieder abbrachen. Ebenso sind die zu Tausenden entmachteten »linken« Kader mit Sicherheit bisher nicht wirklich gewonnen; vielmehr harren sie ihrer Chancen auf Rehabilitierung und Wiederaufstieg. Hinzu kommt die Reformträgheit aller Bürokratie. Vor allem wird sich die Frage nach der Legitimität der Alleinherrschaft einer nachrevolutionären Partei stellen.
Je weiter die Dezentralisierung wirtschaftlicher Entscheidungen fortschreitet, je mehr die Eigenverantwortlichkeit der Industrie-und Handelsunternehmen gestärkt wird, um so größer muß zwangsläufig die Sorge derjenigen werden, die ihre Positionen ausschließlich der Partei verdanken, genauer gesagt: ihrer Anpassungsfähigkeit an die in der Partei jeweils vorherrschenden Richtungen.
Opportunistisches Verhalten gegenüber der fortschreitenden Dezentralisierung aber bedeutet zugleich Hinnahme des Verlustes einst unbestrittener eigener Kompetenzen.
Die zweite Gefahr will mir noch ungleich größer vorkommen: Wenn die Zuordnung ökonomischer Entscheidungen an lokale und regionale Instanzen tatsächlich zu mehr Effizienz führen sollte, ist dann ein gleicher Vorteil nicht auch für politische und intellektuelle Entscheidungen zu erwarten? Muß man nicht geradezu davon ausgehen, daß ein Prozeß des Aufbegehrens gegen intellektuelle und politische Bevormundung in Gang kommt? Wenn auf dem ökonomischen Felde experimentiert werden darf, wieso dann nicht ebenso an den Schulen und Universitäten? Die Schaffung von Wettbewerb oder gar eines Marktes löst wahrscheinlich den Ruf nach größerer individueller Freiheit auch auf anderen Gebieten aus. Die Studentenunruhen des Jahres 1986 waren ein Signal für den Wunsch nach Pluralismus; er wird bei fortschreitender Wirtschaftsreform gewiß wiederkehren.
Allerdings: solange es den Menschenmassen Chinas von Jahr zu Jahr etwas besser geht, solange wird es schwer sein, die Bevölkerung oder auch nur größere Teile der Jugend gegen die reformerische Parteiführung in Marsch zu setzen. Und in der Tat geht es sehr vielen Chinesen, vor allem den Bauern, heute merklich besser als noch vor einigen Jahren. Die Fortschritte sind klein, aber sie werden deutlich empfunden und bewußt registriert. Auch in den Städten ist die Verbesserung der Lage nicht zu übersehen. Als ich 1984 abermals nach Beijing kam, hatte sich die Atmosphäre in der Hauptstadt wesentlich verändert: Sie war munterer, fröhlicher, bunter und insgesamt menschlicher geworden; der Druck von oben lastete nicht mehr auf den Menschen. Überall in der Stadt wurde gebaut; die blaue oder graue Einheitskleidung war durch freundliche Kleider und Anzüge ersetzt worden. Viele Frauen trugen hochhackige Schuhe, hatten ein dezentes Make-up aufgelegt und sich zum Teil auch Dauerwellen machen lassen. Die Männer trugen bunte Hemden. Zum Abendessen unseres Botschafters Günther Schödel erschienen beide Geschlechter weitgehend in westlicher Kleidung. Übrigens lag in den Geschäften vielerlei Obst und
Gemüse aus, und auf den Straßen gab es ein großes Blumenangebot. Der Kontrast zu 1975 war insgesamt beeindruckend: Wir fühlten uns erleichtert und freuten uns mit den Chinesen und für sie.
Die chinesische Führung hatte mich 1984 zu zwei Vorträgen über die weltpolitische und die weltwirtschaftliche Lage eingeladen. Die Vorträge und die anschließenden Diskussionen fanden unter Vorsitz Han Nianlongs im Internationalen Institut statt, dessen Präsident er ist. Es war beide Male ein kleines Auditorium: einige Dutzend Spitzenbeamte aus den Ministerien und Spitzenfunktionäre der Partei; dann einige Botschafter und einige hochrangige Redakteure chinesischer Zeitungen.
Für mich, wahrscheinlich auch für die Gastgeber, war die ökonomische Diskussion die bei weitem interessantere; schon weil sie unmittelbaren Bezug auf das hatte, was wir in der Realität – im Stahlwerk bei Beijing, im Hafen von Shanghai, in einer landwirtschaftlichen Genossenschaft und in den Fabriken in Hangzhou – und im Alltag der großen und kleinen Städte
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