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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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wirtschaftlichen Entfaltung liegen. Die Frage bleibt, ob es eine dafür ausreichende innenpolitische Kontinuität geben wird. Und erst dann, vielleicht aber schon im nächsten Jahrhundert, wird die eigentliche Frage auftauchen: Wird China der Versuchung widerstehen, wieder das »Reich der Mitte« zu werden, an dem sich alle anderen Völker und Staaten der Großregion zu orientieren haben?
    Von der Revolution zur Reform
    Nach den chinesischen Wirtschaftsreformbeschlüssen vom Oktober 1984 brachten westliche Zeitungen teils rechthaberische, teils euphorische Kommentare. Der »Economist« zum Beispiel, ein doch so kenntnisreiches wie urteilsfähiges Blatt, erschien im Dezember 1984 mit der Überschrift: »China stellt fest: Marx ist tot«; das Blatt sprach von einer »Gegenrevolution«. Es gab viele derartige Übertreibungen. Die letzte Phase der Vorbereitungen auf die Reformbeschlüsse habe ich an Ort und Stelle miterlebt, und ich habe dabei einen ganz anderen Eindruck gewonnen. Mir schien es, als werde nicht der Kommunismus aufgegeben, sondern lediglich der krampfhafte Versuch, ökonomische Utopien wortwörtlich in die Wirklichkeit umzusetzen. Nicht eine Gegenrevolution wurde
eingeleitet, sondern der Versuch, nach einer erfolgreich beendeten Revolution in eine Phase pragmatischer ökonomischer Entwicklung einzutreten.
    Daß Marx nicht versucht hat, Rezepte für eine kommunistische Wirtschaftspolitik zu geben, weiß jeder Diplomvolkswirt. Das weiß man auch in Beijing. Wenn man es dort heute en passant erwähnt, so heißt das nicht, daß man in Beijing Marx abschwört; wohl aber werden manche albernen wirtschaftspolitischen Instrumente und Elemente der Zentralverwaltungswirtschaft, deren Erfinder sich – weitgehend zu Unrecht – auf Marx beriefen, in die Mottenkiste gelegt. Marx, Engels, Lenin, Stalin: als revolutionäre Urväter prangen sie nach wie vor in riesigen Porträts auf dem Tien-an-Men-Platz. Sie werden in China als große Vorbilder ebenso ihren Rang behalten wie der eigene Revolutionsführer Mao Zedong, dessen Bild in der Mitte auf dem Tor des Himmlischen Friedens steht.
    Freilich wird gegenwärtig die Frühzeit dieses Mannes, dem in erster Linie der Erfolg der Revolution zu verdanken ist, von seinen späteren Phasen mit großer Entschiedenheit abgesetzt. Die später erlebten katastrophalen Fehlschläge der Kampagnen der »hundert Blumen«, des »großen Sprungs nach vorn«, der »ununterbrochenen Revolution« und der »Kulturrevolution« sollen keine Wiederholung und keine Fortsetzung finden. Alle früheren Versuche – durch Deng Xiaoping, Liu Schao-tschi, Lin Biao und vor allem durch Zhou Enlai –, die von Mao und dessen fanatischen Anhängern verschuldeten chaotischen Zustände wieder in Ordnung zu bringen, waren gescheitert. Der Kampf innerhalb der KPCh war drei Jahrzehnte lang hin und her gegangen; viele hatten ihn mit ihrem Leben bezahlt oder waren in die Verbannung geschickt worden. Aber seit der Verhaftung von Frau Jiang Quing und ihrer »Viererbande«, seit der Rehabilitierung Deng Xiaopings, begann man, »die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen« – so ein konfuzianischer Lieblingsausspruch Dengs – und nicht mehr in der Ideologie. 1978 erklärte das Zentralkomitee die Doktrin von der angeblichen »Schlüsselrolle des Klassenkampfes« für abwegig, weil es in China keine feindlichen Klassen mehr gebe. Hua Guofeng als Nachfolger Maos hatte lange am Prinzip des Klassenkampfes festgehalten.

    Der Parteikongreß des Jahres 1981 markierte das Ende der revolutionären Phase Chinas. Die Revolution hat Jahrzehnte gedauert, auch wenn sie schon 1949 ihren endgültigen Sieg errungen hatte. Ich will einen deutlichen Vorbehalt machen: Zwar sieht es heute so aus, als sei die revolutionäre Phase 1981 endgültig und unwiderruflich zu Ende gegangen; aber man kann die geistigen, psychologischen und politischen Entwicklungen in den intellektuellen Eliten der Partei schwer vorhersagen; allzu viele haben allzulange lügen müssen. Sagen heute alle ihre eigene Wahrheit?
    Deng Xiaoping tut dies gewiß. Er ist der große Motor, der China antreibt zu Realismus und Pragmatismus. Er hat sich darin in den letzten dreißig Jahren wahrscheinlich nur wenig geändert. Sein berühmtes Wort, daß es »gleichgültig ist, ob eine Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache, sie fängt Mäuse«, stammt schon aus den fünfziger Jahren. Die von ihm an die Spitze der Partei und an die Spitze der Regierung gebrachten Zhao Ziyang und

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