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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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zu sehen bekamen. Die teilweise Befreiung der Landwirtschaft vom Zwang zentraler Planung hat nicht nur den Bauern mehr Einkommen, sondern auch den Städtern ein reichhaltigeres Angebot an Nahrungsmitteln gebracht.
    Diese Veränderungen waren nicht zu übersehen, ob ich nun Industriebetriebe oder Arbeiterquartiere besuchte. In Beijing war ich in mehreren riesigen Mietskasernen gewesen. Die meisten Wohnungen waren für unsere Maßstäbe unvorstellbar überbelegt; offiziell gab es in Beijing wie in Shanghai zwar pro Person 4,5 qm Wohnfläche, aber wir hatten den Eindruck, als sei diese statistische Durchschnittsziffer in Wirklichkeit viel zu hoch angesetzt. Die durchschnittliche Wohnfläche in der landwirtschaftlichen Kommune in Hung Tschao bei Shanghai, die mit 2,8 qm angegeben wurde, schien mir realistischer zu sein. Auch dort haben wir mehrere Wohnungen von innen gesehen; es handelte sich überwiegend um Häuser, die abgesehen von den Fundamenten im Eigenbau hergestellt worden waren.
    Der Unterschied zwischen Stadt und Land im Umkreis der Zwölfmillionenstadt Shanghai war frappant; es leuchtete sofort ein,
daß junge Menschen aus der Stadt gern aufs Land heiraten. Die Wohnungseinrichtungen waren überall sehr bescheiden, aber es gab elektrisches Licht und Kanalisation. Es gab Radios, und überall sparte man auf das Fernsehgerät; wo dieses schon vorhanden war, trug es tagsüber eine gehäkelte Schondecke.
    Die Kindergärten werden im ganzen Lande offenbar außerordentlich gefördert. Die Zahl der Kindergärtnerinnen im Verhältnis zur Zahl der Kinder erschien sehr hoch. Natürlich sind Kindergärten besonders dort nötig, wo beide Elternteile arbeiten; denn auf Grund der Geburtenbeschränkung gibt es ja keine älteren Geschwister. Die propagierte Idealfamilie besteht aus fünf Personen: einem Kind, zwei Eltern und zwei Großeltern. Die Enge in den neuen Zweizimmerwohnungen der Städte ist also auch im Idealfall bedrückend.
    In Beijing wohnten wir 1984 in demselben Gästehaus, in dem ich neun Jahre zuvor als Bundeskanzler gewohnt hatte. Mit anderen Gästehäusern liegt es in einem Park im Westen der Stadt, der ursprünglich für den Sommeraufenthalt eines Kaisers angelegt worden war. Die öffentlichen Parkanlagen in der Nähe boten am frühen Morgen ein eigenartiges Schauspiel. In großer Zahl zogen die Menschen vor Beginn der Arbeitszeit hinaus: Während die einen ihre Singvögel an die frische Luft trugen – Tausende transportierten ihren Vogelbauer auf dem Fahrrad ins Grüne –, übten sich andere im Schattenboxen oder machten Freiübungen und stießen dabei laute Urschreie aus. Die Ehefrau unseres Botschafters vermutete, dies sei ein Abreagieren von Aggressionen, die bei der Enge in den Wohnungen unvermeidlich entstünden. Uns leuchtete das ein: Die Wohnungsnot in den Städten muß seelische Folgen haben.
    Allgemeines Flanieren auf den Straßen bestimmte das Bild nach Feierabend; ganz sicher waren sehr viel mehr Menschen auf den Straßen unterwegs als jemals zu den besten Zeiten auf dem Kurfürstendamm oder auf dem Broadway. Ich vermute, daß der entscheidende Grund für den allgemeinen Abendbummel ebenfalls in der Wohnungsenge liegt. Es fiel mir auf, daß das Straßenbild in den vier Großstädten, die wir damals besuchten – Xian, Shanghai,
Hangzhou und Guangzhou (Kanton) –, wesentlich bunter war als in der Hauptstadt. Es gab fliegende Händler, die gebackene Hühner, Nüsse, Apfel, Bier, Suppe und Schaschlik feilhielten. Die Menschen schlenderten hin und her, sie genossen das friedliche Leben und die Dämmerung des hereinbrechenden Abends: ein fröhliches Bild.
    Nach Xian waren wir gereist, um die in den letzten Jahren ausgegrabenen Tonkrieger zu sehen, insgesamt vermutlich über 7000 Figuren, die, unter einem künstlichen Hügel verborgen, das Grab des »ersten Kaisers von China« bewachen sollten. Man hat über den erst teilweise freigelegten Reitern und Fußsoldaten zum Schutz gegen die Witterung eine riesige Halle errichtet. Große Teile der weitläufigen Anlage aus dem dritten Jahrhundert vor Christus und der Grabhügel selbst harren noch der Öffnung, denn man geht langsam und mit wissenschaftlicher Sorgfalt vor. Ein Vergleich mit der Majestät der freilich völlig anders konzipierten Anlage der Hatschepsut gegenüber von Luxor drängte sich mir auf: beide Male würdevolle Hinterlassenschaft einer jahrtausendealten Kultur.
    Auf dem Rückflug nach Beijing konnten wir uns aus niedriger Flughöhe ein

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