Menschen und Maechte
Gefälle innerhalb des Staatsgebietes. An der Spitze stehen der industrielle Nordosten mit dem großen Hafen Dalien (früher bei uns Dairen genannt, noch früher Port Arthur) und der Norden mit den beiden Riesenstädten Beijing und Tianjin (Tientsin); danach folgt das Yangtsedelta mit Shanghai. Auch am Realeinkommen gemessen, sind dies relative Wohlstandsgebiete. Am Ende der Skala stehen Xinjiang und Tibet; dazwischen leben in den durchaus rückständigen Regionen im Nordwesten und im Südwesten mehrere hundert Millionen Menschen. Es gibt nur sehr unzureichende Transportsysteme; der große Seehafen Shanghai dient zwar in erster Linie als binnenwirtschaftliche
Drehscheibe, doch kann er nur die Küsten und den schiffbaren Teil des Gelben Flusses bedienen.
Es gibt bisher noch kein allgemeines Sozialversicherungssystem; die »eiserne Reisschüssel«, mit der die Betriebe ihre alten Menschen versorgen, belastet die betriebliche Kostenrechnung. Sie soll deshalb abgeschafft werden. Bei Lebensmitteln und Mieten gibt es ungeheure Subventionen; sie allein machen ein Drittel des Staatshaushalts aus. Die Endverbraucherpreise liegen weit unter den Gestehungskosten und den Ablieferungspreisen. Auch ein wirtschaftlich vernünftiges System der Unternehmensbesteuerung fehlt bisher.
Zusätzlich zu diesen Hürden wird die Reform selber unvermeidlich neue Probleme entstehen lassen – zum Beispiel eine weitere Ausfächerung und Steigerung der Einkommensunterschiede, und dies keineswegs bloß in den vierzehn neuen »besonderen wirtschaftlichen Entwicklungszonen«, die in Küstenstädten für ausländische Investitionen geöffnet werden. Die Lage wird auch dadurch komplizierter werden, daß China in den nächsten Jahren wegen der einst hohen Geburtenüberschüsse und wegen steigender Tendenz zu regional konzentrierter Arbeitslosigkeit unaufhörlich neue Arbeitsplätze schaffen muß.
Wie wird man die Umorientierung der Bürokratie von bisheriger Befehlsplanung zur künftigen Orientierungsplanung bewältigen? In welchem Zeitraum kann man die ökonomische Umerziehung der politischen Spitze, ihre Orientierung am magischen Viereck der Volkswirtschaft erwarten, also an Preisstabilität, hoher Beschäftigung, Wachstum und am außenwirtschaftlichen Gleichgewicht? Die allgemeine Preisstabilität wird zunächst am schwierigsten zu bewahren sein; zugleich ist sie der empfindlichste Punkt des Prozesses. Schon heute ist die Preisinflation vermutlich erheblich höher als durchschnittlich zwei Prozent pro Jahr, wie sie offiziell ausgewiesen wird. Der ZK-Beschluß über die Wirtschaftsstrukturreform enthält charakteristischerweise einen preispolitischen Appell an die Unternehmensleitungen, der mich an die späten »Seelen-Massagen« Ludwig Erhards erinnert.
Neben alledem werden subjektive Widerstände geweckt werden.
Es erscheint mir undenkbar, daß es in der Parteihierarchie keine starken stalinistisch oder maoistisch geprägten Gruppierungen mehr geben soll – auch wenn man berücksichtigt, daß die Mehrheit der heutigen Mitglieder erst nach Beginn der Kulturrevolution in die Partei eingetreten ist. Überbleibsel und Reste alter Lehrmeinungen finden sich mit Sicherheit auch in der Armee, denn die Armee war aus ihrer revolutionären Entstehungsgeschichte heraus zwangsläufig stark politisiert. Heute rangiert die Verteidigung unter den »vier Modernisierungen« erst an letzter Stelle; Priorität haben Landwirtschaft, Industrie und Wissenschaft. Wird die Armee die »Modernisierung« hinnehmen, wenn es soweit ist? Wird die Parteibürokratie in den Provinzen, in den Städten und Betrieben ihren Machtverlust ertragen? Werden die Betriebs- oder Unternehmensleiter lernen, mit dem ihnen eingeräumten Handlungsspielraum zweckmäßig umzugehen? Werden sie den Willen entfalten, sich durchzusetzen?
Dies alles muß ich offenlassen. Wenn man das wenige bedenkt, was man als Europäer von der chinesischen Geschichte weiß, so hat man den Eindruck, als sei China seit dem schändlichen Opiumkrieg vor anderthalb Jahrhunderten nicht fähig gewesen, sich durch Entfaltung seiner eigenen Kräfte gegen Invasoren zu wehren. Der Akzent scheint in China nicht auf Entwicklung oder Reform gelegen zu haben, sondern auf Revolte – zum Beispiel im Boxeraufstand 1900 – und auf Revolution – zum Beispiel durch Sun Yatsen 1911 und dann wieder und endgültig durch Mao Zedong. Die beharrenden Kräfte wichen dem Reformverlangen nicht, sie mußten vielmehr zerschlagen werden.
Was
Weitere Kostenlose Bücher