Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
Vom Netzwerk:
Fast alle hatten später mehrere Fortbildungsinstitute besucht; ihr Ausbildungsweg entsprach einem sehr verzögerten und verspäteten »zweiten Bildungsweg«. Die Abschlußprüfungen waren gewiß Voraussetzung für den weiteren Aufstieg gewesen. Aber den Aufstieg selbst verdankten sie ihrer Leistung in der Praxis – und vermutlich auch ihrer politischen Anpassungsfähigkeit. Schließlich hatten sie schon unter Stalin hohe Ämter innegehabt und waren dann entweder in der Ära Chruschtschow oder – wohl überwiegend – in der Ära Breschnew in den gerontokratischen Areopag des Politbüros aufgestiegen.

    Abb 36 Moskau, Juli 1980: Außenminister Genscher, Staatssekretär Bölling, Kossygin, Gromyko, Schmidt, Ministerialdirigent Höynck (hinter Schmidt); ganz rechts Botschafter Wieck.
    im Gespräch mit Kossygin, Breschnew und Gromyko.

    Sie hatten harte Gesichter, geprägt offenbar vom lebenslangen Machtkampf; zugleich zeigten sie Würde und große Selbstbeherrschung. Wahrscheinlich kannte außer Gromyko keiner von ihnen die westliche Welt aus eigener Anschauung. Niemand sprach eine westliche Sprache. Da nur Breschnew und ich Dolmetscher hinter uns hatten, konnten die übrigen Russen und Deutschen, an einer langen Tafel sitzend, kaum die einfachsten Gespräche miteinander führen (einige meiner Delegationsmitglieder sprachen allerdings etwas Russisch).
    Diesen Umstand hatten wir vorausgesehen. Deshalb stellte ich meine Tischrede nicht den Zufällen einer mündlichen Übersetzung anheim, sondern ließ sie den Russen in russischer Sprache gedruckt neben ihr Gedeck legen. Um gegen jede Beeinträchtigung gefeit zu sein, hatten wir die Rede schon Stunden vorher auch an die westliche und die sowjetische Presse verteilt. Es war klar: die sowjetische Presse würde diese Rede unterschlagen. Wenn wir sie den Mitgliedern des Politbüros nicht selbst in russischer Sprache in die Hand gäben, würde die politische Elite der Sowjetunion vom Inhalt so gut wie nichts mitbekommen.
    Der Führungsapparat der Sowjetunion erfährt, was der Westen sagt, meist nur aus zweiter Hand – sei es aus dienstlichen Papieren oder aus der Presse. Seine Angehörigen können nur russische Zeitungen lesen, und die waren damals selektiv bis zur Umkehrung von Wahrheit in Unwahrheit. Die Zeitungen unterstellten den westlichen Politikern Motive und Zwecke ganz nach Maßgabe des Bildes, welches sich die sowjetische Ideologie vom Westen gemacht
hat. Schließlich dienten die Berichte und Kommentare der Zeitungen in Moskau der Propagierung und der Legitimation der eigenen Politik.
    Konnten die im Zarenpalast versammelten Männer – mit Ausnahme von Gromyko und Andropow, dem damaligen Geheimdienstchef – wissen, wie man im Westen über ihre Handlungen dachte? Konnten sie wissen, was ich dachte? Es schien notwendig, ihnen unsere Meinung schwarz auf weiß vorzulegen – auch auf die Gefahr hin, daß sie nicht nur vom Inhalt überrascht waren, sondern auf eine solche Eigenmächtigkeit auch empört reagierten. Natürlich hatte die Schriftform auch den Nebenzweck, einigen Zweiflern im Westen vor Augen zu führen, wie und mit welchen Worten der deutsche Bundeskanzler in der Löwengrube auftrat.
    Breschnews Tischrede war kurz und allgemein, warnend, aber sachlich. Der zweite Teil seiner Ansprache, der von der Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und uns handelte, war sogar eher freundlich. Meine Erwiderung war mehr als doppelt so lang, deshalb mußte ich schnell sprechen. Dafür sprach ich leise und verbindlich, sehr höflich nicht nur im Tonfall, sondern auch in der Formulierung.
    Zu den zwei Kontroversthemen jedoch äußerte ich mich hart und klar. Ich gab der Sowjetunion die Schuld an der Krise in Afghanistan und beharrte auf dem vollständigen Abzug der sowjetischen Truppen. Ebenso gab ich der Sowjetunion die Schuld an der Situation, die den Doppelbeschluß der NATO vom Dezember 1979 notwendig gemacht habe, und appellierte an die sowjetischen Gastgeber, ohne Vorbedingungen dem Beginn von Verhandlungen zuzustimmen. Natürlich sprach ich am Schluß vom deutschen Friedenswillen, von den Schrecken des letzten Krieges und von unserem Willen zur Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. Aber ich fügte hinzu: »Jetzt kommt es darauf an, neue gefährliche Ungleichgewichte zu verhindern, die auch das zwischen uns Erreichte in Frage stellen könnten.«
    In den Mienen der Russen, die meine Rede mitlasen, wurde bald Überraschung, dann Irritation und schließlich Ärger

Weitere Kostenlose Bücher