Menschen und Maechte
deutlich. Suslow, der unmittelbar neben mir saß, knallte irgendwann in der
Mitte demonstrativ und geräuschvoll seine Übersetzung auf den Tisch. Ich dachte, nun komme es zum Eklat, aber ich sprach mit leiser Stimme weiter, ohne zu zucken. Als ich zu meinem Gegenüber blickte, sah ich zu meiner Beruhigung, daß Breschnew selber sich nicht stören ließ; er verfolgte meinen Text – den er selbst seit zwei Stunden kannte –, ohne aufzusehen.
Am Schluß stand Breschnew auf und applaudierte; ihm folgten Suslow, Kossygin und alle anderen. Das Politbüro hatte meinen Respekt vor der Weltmacht Sowjetunion gespürt; es war zwar irritiert, aber nicht beleidigt. Es hatte die Ernsthaftigkeit meines Willens zu Frieden und Zusammenarbeit sehr wohl verstanden und war deshalb bereit, meine freimütige Offenheit zu akzeptieren.
Im Kreml hatte es wahrscheinlich seit langen Jahren keine derart unverhüllten ausländischen Vorwürfe an die Adresse der sowjetischen Führung gegeben. Einige Mitglieder dieser Führung waren nervös geworden; das sah man an gestikulierenden Gesprächsgrüppchen, die sich nach Aufhebung der Tafel bildeten. Einige russische Gäste schienen sich überrumpelt zu fühlen, ihnen konnte das Ganze als Präjudiz vorkommen – ich wußte es nicht.
Kaum hatte ich geendet, kam Breschnew auf meine Seite des Tisches herüber, um mir zu sagen, man habe noch etwas untereinander zu besprechen. So verabschiedete ich mich schnell. Offenbar brauchte Breschnew Zeit und Gelegenheit, die Wirkung meiner Worte zu kanalisieren. Ich hatte den Eindruck, etwas in Gang gesetzt zu haben – wußte aber noch nicht, was es war.
Spätabends oder am anderen Morgen hörte ich dann, die Gastgeber seien verärgert. Der Generalsekretär habe als Staatsmann gesprochen, der Kanzler aber habe ein Donnergepolter losgelassen. In diesem Sinne hatten die sowjetischen Journalisten versucht, ihre deutschen Kollegen nervös zu machen. Mit einer gewissen Spannung erwartete die deutsche Delegation die sowjetische Antwort, die in der Vormittagssitzung erfolgen mußte. Das Treffen wurde auf sowjetischen Wunsch um eine Stunde auf elf Uhr verschoben – ein Zeichen dafür, daß auf sowjetischer Seite wohl nicht alles planmäßig verlief.
Inzwischen fuhren wir, wie schon in Bonn festgelegt, zum
Ehrenmal für die sowjetischen Soldaten an der Kremlmauer und zum deutschen Soldatenfriedhof Ljubino. Obgleich es sich nur um einen »Arbeitsbesuch« handelte, wollte ich doch mit beiden Kränzen demonstrativ zeigen: Wir Deutschen wollen Hitlers Weltkrieg nicht vergessen, die Schrecken der Vergangenheit dürfen sich nicht wiederholen.
Die Sowjets haben für ihre zwanzig Millionen Kriegstoten keine besonderen Friedhöfe errichtet; es finden sich auch für ihre Soldaten fast nirgendwo im Lande individuelle Gräber. Statt dessen aber gibt es zahllose Kriegerdenkmäler; an diesen Orten wird der Toten gedacht, und dort finden die Totenfeiern statt. Deshalb fiel es der sowjetischen Führung zunächst sehr schwer, dem deutschen Wunsch nach Zusammenlegung deutscher Kriegstoter zu entsprechen und der Bundesrepublik die Pflege deutscher Soldatenfriedhöfe zu erlauben. Dem einstigen Feind sollte man zugestehen, was den eigenen Toten vorenthalten blieb? Es muß dankbar anerkannt werden, daß die Sowjets uns im Laufe der Jahre schrittweise die Pflege und den Besuch deutscher Soldatenfriedhöfe ermöglicht haben.
Ljubino zeigte am Morgen jenes 1. Juli 1980 Spuren eiligster Herrichtung; das am Vortag frisch gemähte Gras, das den kleinen Friedhof bedeckt hatte, war noch nicht zusammengeharkt, es lag noch am Rande des Weges. Abermals dachte ich vier Jahrzehnte zurück – die Gesichter und Namen meiner gefallenen Jugendfreunde stiegen aus der Erinnerung.
Anderntags schrieb der »Münchner Merkur«: »An den Gräbern von Ljubino standen die Gespenster des Krieges Spalier.« So konnte man es in der Tat sagen. Die Gespenster des Krieges waren auch an der Kremlmauer gegenwärtig – und ebenso waren sie gestern in unseren Verhandlungen gegenwärtig gewesen, und sie würden es heute wiederum sein.
Als Breschnew die Sitzung eröffnete, wurde schnell deutlich, daß die Sowjetführung sich inzwischen beraten hatte. Breschnew las aus handschriftlichen Notizen, improvisierte auch hier und da, und zweimal half Gromyko mit präzisen Formulierungen aus. Der Kern war: die Sowjetführung erklärte sich bereit, ohne Vorbedingungen,
ohne jegliche Verzögerung, ohne auf die Ratifikation von
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