Menschen und Maechte
weiteren Öffnungswünschen zugunsten des Zusammenhaltes der geteilten deutschen Nation nur vorsichtig begegnen. Obgleich sie wirtschaftlich von allen die Erfolgreichsten sind, werden Honecker und die SED-Führung besonders sorgfältig auf jedes Signal aus Moskau reagieren.
Der zweite und einstweilen wichtigere Grund zur Vorsicht osteuropäischer kommunistischer Führer liegt in der Ungewißheit über den ökonomischen Erfolg Gorbatschows. Er braucht dafür jedenfalls noch einige Jahre. Zwar ist er bei weitem der intelligenteste, tatkräftigste und modernste Chef, den die Sowjetunion seit Jahrzehnten erlebt hat; falls er jedoch scheitern sollte, weil seine Reformen keinen Erfolg haben oder weil sie seine Parteifunktionäre weit überfordern, so ist nicht etwa eine Rückkehr zur behäbigen Dickfelligkeit der letzten Breschnew-Jahre wahrscheinlich, sondern weit eher ein tiefer Rückfall in Tyrannei durch Geheimpolizei, in zentralverwaltete Kommandowirtschaft und außenpolitisch in Diktatur über die Klientenstaaten des Warschauer Paktes. Von Menschenrechten, gar von »Demokratisierung« wäre auf lange Zeit keine Rede mehr.
Wer in gutem Wohlstand lebend eine sehr arme und bedrückte,
aber notfalls auch rücksichtslose Familie im Nachbarhaus wohnen hat, die mit scheelem oder gar neidischem Blick auf ihn schaut, der wünscht diesen Nachbarn aus eigenem Interesse Fortschritt und Besserung ihrer Lebensverhältnisse – möglicherweise entschließt er sich sogar, dabei ein wenig zu helfen. Dies ist die Lage der Deutschen in der Bundesrepublik, die insgesamt in gutem Wohlstand leben, gegenüber dem Nachbarn Sowjetunion, deren Panzer und Jagdbomber nur Minuten von unseren Landesgrenzen entfernt stationiert sind. Es ist deshalb natürlich, daß die meisten Deutschen auf einen Erfolg der Gorbatschowschen Reformen hoffen. Sie ahnen, daß der neue Mann die geschichtlich gewachsenen Formen des Staates und der Gesellschaft genausowenig umstürzen kann wie dreihundert Jahre zuvor Peter der Große – aber sie wünschen sich im eigenen Interesse, daß er genausoviel Erfolg haben möge wie jener erste große russische Reformator.
Auch die Völker Westeuropas werden zu dieser Einsicht gelangen. Ähnlich müssen es wohl auch die klugen Chinesen empfinden, denn sie sind – wie wir Deutschen – unmittelbare Nachbarn der Sowjetunion. Etwas schwerer fällt das Urteil manchen Amerikanern; einige möchten ganz einfach ihr ideologisches Feindbild nicht verlieren. Andere, wie Henry Kissinger, verweisen darauf, daß eine ökonomisch und reformerisch erfolgreiche Sowjetunion als Machtfaktor mehr Gewicht in der Welt haben werde als derzeit. Diese Prognose ist wohl zutreffend; dennoch bleibt die allgemeine Lebenserfahrung richtig, daß ein satter Nachbar angenehmer ist als ein hungriger. Ob die Sowjetunion später wieder zu einer expansionistischen Gesamtstrategie zurückkehrt, ist heute nicht vorherzusagen. Deshalb bleibt westliche Vorsicht geboten: die Aufrechterhaltung des abschreckenden Gleichgewichts als Grundlage der Sicherheit des Westens und auf dieser Grundlage die vielfältige Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zwecks ihrer ökonomischen, technischen, wissenschaftlichen und schlechthin zivilisatorischen Einbeziehung in den internationalen Zusammenhang.
Als ich im März 1987 mit Gromyko sprach, sagte er: »Wir sind vom zukünftigen Erfolg unserer Politik überzeugt; wir brauchen dazu aber eine friedliche Innen- und Außenpolitik.« Ich sprach
ihm dazu meine besten Wünsche aus: »Ihr Erfolg liegt in unser aller Interesse: im Interesse der Völker der Sowjetunion wie auch ihrer Nachbarn in Europa.«
»Dies ist ein sehr gutes Wort«, meinte Gromyko. »Wir wohnen alle in einem gesamteuropäischen Haus und werden stets nach Ihrer Hand suchen. Sie selbst können einen großen Beitrag leisten, da Sie nach wie vor in ganz Europa große Autorität haben.« Ich fand das sehr liebenswürdig und erwiderte: »Zu den Händen, die man ergreifen muß, gehört auch die Hand von George Shultz.«
Gromyko: »Ich habe Shultz oft getroffen, ich stimme Ihnen zu. Wir haben manchmal auch scharfe Gespräche gehabt … aber Shultz ist ein Mann, mit dem man gut reden kann; er macht keine zu großen Worte, und er kann zuhören. Er spielt eine gute Rolle.«
Dann fragte mich Gromyko, wie ich den gegenwärtigen Stand der deutsch-sowjetischen Beziehungen beurteilte; dies bezog sich auf eine abträgliche Bemerkung Bundeskanzler Kohls über Gorbatschow. »Die Zeit
Weitere Kostenlose Bücher