Menschen und Maechte
konventionellen Angriff auf Westeuropa abzuschrecken.
Der Alpdruck hoffnungsloser konventioneller Unterlegenheit des Westens ist seit Vollendung des Aufbaus der deutschen Streitkräfte nicht mehr gerechtfertigt. Wohl aber ist die wegen dieses Alpdrucks seit 1962 entfaltete und 1967 im Bündnis beschlossene Strategie der »flexible response« durchaus geeignet, den Verteidigungskampfwert der Bundeswehr entscheidend zu verkrüppeln. Denn in Wirklichkeit sahen seit 1967 alle Militärpläne und Manöver keine wirkliche Flexibilität vor; vielmehr ging die NATO-Führung immer von einer schnellen Eskalation aus, sie unterstellte und übte in ihren Manövern einen frühen Erstgebrauch nuklearer Waffen durch den Westen. Als ich 1969 Verteidigungsminister wurde, war mir klar, daß diese Strategie im Ernstfall innerhalb weniger Tage zu millionenfacher Vernichtung menschlichen Lebens in beiden Teilen Deutschlands führen konnte.
Ich hielt es für ganz unrealistisch zu glauben, daß im Verteidigungsfall unsere Soldaten weiterkämpfen würden, wenn erst einmal nukleare Waffen auf deutschem Gebiet explodiert wären. Absurd erschien mir die Vorstellung der NATO, daß unsere Soldaten in diesem Falle den Verteidigungskampf fanatischer und selbstmörderischer fortsetzen würden als die Japaner, die 1945 nach den beiden Nuklearbomben auf Hiroshima und Nagasaki sofort kapituliert haben, obgleich noch kein amerikanischer Soldat die japanischen
Hauptinseln betreten hatte. Ich war deshalb als Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt fest entschlossen, für den (unwahrscheinlichen) Fall eines sowjetischen konventionellen Angriffs einer westlichen Eskalation in die nukleare Kampfführung keinerlei Beihilfe zu leisten. Es erschien mir allerdings nicht sinnvoll, dies öffentlich auszusprechen; denn es war denkbar, daß eine Portion Ungewißheit über die zu erwartende westliche Reaktion auf die Sowjetunion abschreckend wirkte.
Heute ist es an der Zeit, die Strategie der »flexible response« durch ein neues Konzept zu ersetzen, etwa durch Bereitstellung ausreichender konventioneller Streitkräfte und mittels Integration von deutschen, französischen und Benelux-Truppen unter gemeinsamem französischem Oberbefehl. Ein solches Konzept liegt dringlich auch im aufgeklärten Interesse Frankreichs; man sollte sich in Paris einmal bildhaft die Lage Frankreichs vorstellen, die eintreten würde, wenn wegen nuklearer Zerstörung Deutschlands die Bundeswehr den Verteidigungskampf aufgäbe!
Für den Westen darf die Funktion nuklearer Waffen nur darin liegen, die östliche Seite davon abzuhalten, ihrerseits einen Erstgebrauch ins Auge zu fassen. Dieser Satz gilt nicht nur für eurostrategische Mittelstreckenwaffen jeder Reichweite, er gilt auch für Langstreckenwaffen (sogenannte »strategische« Raketen). Er gilt ebenso für sogenannte »taktische« und für sogenannte »Gefechtsfeld«-Nuklearwaffen.
Ich habe diese Überzeugung schon 1961 in meinem Buche »Verteidigung oder Vergeltung« vertreten: »Die These von der Unvermeidbarkeit nuklearer Verteidigung ist tödlicher Unfug … Die Verteidigung mit begrenzter nuklearer Waffenwirkung als Drohung behält auf die Dauer ihre Glaubwürdigkeit lediglich für [den Fall von] Aggressionen, die mit gleicher Waffenwirkung beabsichtigt sind. Ausschließlich zur Abschreckung solcher Aggressionen braucht die NATO in Europa … taktische Nuklearwaffen … [Eine] tatsächliche Verteidigung gegen eine nichtnukleare (konventionelle) Aggression in Europa mit Hilfe taktischer Nuklearwaffen wäre … mit hoher Wahrscheinlichkeit gleichbedeutend mit weitgehender Vernichtung Europas, jedenfalls … Deutschlands.«
Es liegt im westlichen wie auch im sowjetischen Interesse, durch Verträge die beiderseitigen Militärpotentiale zu verringern. Hinsichtlich ihrer Nuklearwaffen sind die USA und die Sowjetunion durch den Nichtverbreitungsvertrag seit zwanzig Jahren dazu verpflichtet. Sie haben beide diese Pflicht bisher nicht erfüllt – im Gegenteil. Eine beiderseitige Null-Lösung auf dem Felde der nuklearen Mittelstreckenwaffen wäre seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges der erste Schritt zu vertraglich vereinbarter, tatsächlicher Abrüstung. Falls dieser Schritt zustande kommt, werde ich mich für meine Mitwirkung am NATO-Doppelbeschluß und für meine Urheberschaft des Konzeptes der Null-Lösung gerechtfertigt wissen. Falls er durch westliche Gegenargumente zunichte gemacht werden sollte, könnten nachträglich jene
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