Menschen und Maechte
geht über das Interview hinweg«, entgegnete ich. »Wichtig ist, daß in diesem Sommer ein amerikanisch-sowjetischer Vertrag über INF zustande kommt; falls diese Zeit nicht genügt und infolgedessen die Ratifizierungsdebatte in den USA tiefer in das Wahljahr 1988 hineinreicht, so steht eine Ratifizierung nicht mehr zu erwarten. Der neue Präsident kommt erst im Januar 1989 ins Amt; er wird dann vermutlich neu verhandeln, so daß ein ratifizierungsfähiges Ergebnis erst 1990 oder 1991 vorliegen kann.« Ob Gorbatschow so lange warten könne?
Je früher ein Vertrag zustande komme, desto besser, antwortete Gromyko. Wenn aber bei den Amerikanern weder Wunsch noch Wille bestehe, dann könne die Sowjetunion auch warten.
Mein Eindruck sei, sagte ich, daß bei Shultz und ebenso bei Reagan selbst der Wille vorliege. »Übrigens ebenso bei Bundeskanzler Kohl. Daß jetzt Sie eine Null-Null-Lösung vorschlagen, liegt in der Logik der seinerzeitigen Bundesregierung. Allerdings hat sich inzwischen durch die Vorwärts-Stationierung Ihrer Kurzstrecken-INF in der DDR und in der ČSSR die Lage abermals verändert; die Entscheidung über das Zustandekommen eines
INF-Abkommens liegt in einer befriedigenden Einbeziehung der Kurzstrecken-INF in den Vertrag.«
»Wir sind uns bewußt«, entgegnete Gromyko, »daß der Vorschlag der Null-Null-Lösung von Ihnen stammt; wir sind bereit, die SR-INF im gleichen Kontext zu behandeln. Ihre Äußerungen hinsichtlich der sowjetischen Vorschläge haben einen gesunden Kern. Als Sie Bundeskanzler waren, haben wir beide schon gewußt, daß kein echter Friede in der Welt eintreten kann, solange es noch nukleare Waffen gibt. Aber damals haben wir uns zu sehr auf die europäische Region konzentriert; jetzt ist uns klar, daß eine globale Lösung nötig ist … Ich weiß nicht, ob die Dinosaurier Vegetarier waren oder Raubtiere. Wohl aber weiß ich, aus späterer Rückschau werden die nuklearen Dinosaurier schrecklich aussehen! Es gibt zu viele Analysen, zuviel Feilschen, zuviel risikoreiches Spiel. Der Homo sapiens muß sich selbst ins Ohr kneifen, um sich das Risiko ins Bewußtsein zu führen.«
Ich hatte Andrej Gromyko sechs Jahre nicht gesprochen. Er wirkte auf mich offen und befreit. Ich dachte: Um Himmels willen, laßt uns diese beiden Männer, Gorbatschow und Gromyko, beim Worte nehmen! Auf dem Rückflug meine Moskauer Gespräche überdenkend, erinnerte ich mich an einen prägenden Eindruck meiner Jugend. Als Fünfzehn- und Sechzehnjähriger hatte ich mir aus der öffentlichen Bücherhalle in der Nähe des Landwehrbahnhofs nacheinander die großen russischen Romanciers und Novellisten des neunzehnten Jahrhunderts ausgeliehen. Ich hatte ihre Werke mit jugendlich-überschwenglicher Anteilnahme gelesen. Andere Eindrücke russischer Kultur kamen hinzu, und zeit meines Lebens habe ich immer gewußt, die Schriftsteller, die Maler und Musiker Rußlands sind ein Teil des kulturellen Kontinuums Europa; auch während des Krieges gegen die Sowjetunion habe ich daran nicht gezweifelt. Und jetzt, im Jahre 1987, entdecken endlich auch die kommunistischen Führer Rußlands ihre Zugehörigkeit zum »gemeinsamen Haus Europa«. Ich gestehe, daß ich davon angerührt war. Ich mußte mich selbst zur Ordnung rufen, damit nicht Rührung und Sympathie mich zur Illusion verführten.
Wir Deutschen dürfen Hitler und seinen Krieg, wir dürfen alle
die Schandtaten nicht vergessen, die von Deutschen begangen worden sind. Ich weiß: Wir haben keinerlei moralische Legitimation, sie etwa gegen Stalins Untaten aufzurechnen. Aber ich weiß auch: Das zaristische Rußland war schon zu Bismarcks Zeiten ein gefährlich mächtiger Nachbar – die Sowjetunion ist noch mächtiger. Sie ist keineswegs eine international-karitative Institution. Aber als Feind dürfen wir sie nicht ansehen! Wir müssen sie als Nachbarn sehen und gute Nachbarschaft mit ihr erstreben.
Die USA – von der Schwierigkeit, eine Weltmacht zu sein
Die Bundesrepublik Deutschland hat in den fast vier Jahrzehnten ihres Bestehens bisher sechs Regierungschefs gehabt. Sie hatten verschiedene Lebenswege und verschiedene innen- und außenpolitische Vorstellungen. Aber keiner von ihnen hat einen Augenblick lang vergessen, daß die Sicherheit unseres Staates letztlich von der Strategie und von dem Willen der USA abhängt, ihren europäischen Verbündeten beizustehen.
Jalta und Potsdam waren die zwangsläufige Folge des amerikanischen Entschlusses gewesen, die zweite
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