Menschen und Maechte
Front gegen Hitler 1944 auf französischem und italienischem Boden zu errichten und nicht – wie Churchill vorgeschlagen hatte – auf dem Balkan. Kein deutscher Bundeskanzler war politisch legitimiert, die Entscheidung von Jalta nachträglich zu kritisieren; wohl aber mußte jede deutsche Politik von der politischen und militärischen Lage des zweigeteilten Europa und des zweigeteilten Vaterlandes ausgehen, wie sie 1945 entstanden war.
Die Deutschen waren sich in den Nachkriegsjahren keineswegs sicher, ob und wie lange es bei dieser Spaltung bleiben würde. Aber sie wußten: Ohne die USA und ihr Eintreten für unsere Freiheit würden die westlichen Besatzungszonen, aus denen 1949 die Bundesrepublik entstand, dem sowjetischen Druck preisgegeben sein. Ohne die große Hilfe des Marshallplanes wäre der stupende wirtschaftliche Aufbau nicht möglich gewesen. Ohne die Luftbrücke wäre Berlin verloren worden. Ohne das Nordatlantische Bündnis wäre das demokratische Europa nicht zu halten gewesen.
Zwar hatte Adenauer seit 1949 manche ernsthafte Dispute mit Washington – und ähnliche Auseinandersetzungen hatten dann auch Erhard, Kiesinger und Brandt durchzustehen, zum Beispiel über den »Radford-Plan« einer peripheren Verteidigung Europas von Spanien und Gibraltar aus; über die MLF, das NATO-Vorhaben einer »multilateralen« nuklearen Polarisstreitmacht zur See; über
»Ausgleichs«-Zahlungen zur Kompensation der US-Ausgaben für die amerikanischen Truppen in Deutschland; über den Genfer Kernwaffensperrvertrag von 1969 oder über die deutsche Ostpolitik. Doch kein Bundeskanzler hat darüber die existentielle Bedeutung des Bündnisses mit den USA aus den Augen verloren. Und keiner, der mit der Sowjetunion friedenssichernde Kompromisse anstrebte, hat jemals den kategorischen Unterschied im Verhältnis der Bundesrepublik zu den beiden Supermächten vergessen.
Mit den Amerikanern verbinden uns gemeinsame Wertentscheidungen über die Freiheit und die Rolle des einzelnen, über die offene Gesellschaft und über die demokratische Staatsform; von den Sowjetrussen hingegen trennen uns deren Instrumentalisierung der Person, ihre der Gesellschaft mit doktrinärem Eifer rücksichtslos aufgezwungene Ideologie und das System der Diktatur. Die Grundrechte unserer Verfassung und die ihnen zugrunde liegenden Werte stammen nicht aus Rußland; die geistigen Wurzeln unseres Staates liegen im Westen. In London, in Philadelphia und in Paris traten sie zuerst in die Praxis von Staaten.
Mit diesen Überzeugungen wurde ich 1969 zum ersten Mal Mitglied einer Bundesregierung. Ich habe meine Meinung in dieser Hinsicht nie geändert. Als ich dreizehn Jahre später mein Ausscheiden aus der Regierung vorbereitete, habe ich am Vorabend meines Sturzes die in Bonn akkreditierten Botschafter zu mir gerufen. Meine Ansprache war kurz. An die USA gewandt, sagte ich: »Wir werden nicht vergessen: Das geistige Erbe der Freiheitsrechte des einzelnen haben wir … von Franklin, von Jefferson, von Washington. Und wir wissen auch, was wir George Marshall und millionenfacher amerikanischer Großzügigkeit seit dem Kriege verdanken … Millionen Deutscher haben nicht nur ›Onkel Toms Hütte‹ gelesen, sondern ebenso Thornton Wilder oder Ernest Hemingway. Der Jazz ist Teil der Kultur aller Europäer geworden. Dies alles ist eine zusammenhängende Kultur! … Unsere Aufgabe bleibt, dafür zu sorgen, daß auch die nachfolgenden Generationen auf beiden Seiten des Atlantik an der gegenseitigen Freundschaft festhalten …«
Am nächsten Morgen, am 1. Oktober 1982, sprach ich zum letzten Mal als Bundeskanzler vor dem Bundestag: »Die nordatlantische
Allianz entspricht den gemeinsamen Interessen der Europäer und der Nordamerikaner …Nur gemeinsam können sie alle ihre Sicherheit und ihre Freiheit, ihren Frieden bewahren. Zugleich ist die Allianz eines der wichtigsten Verbindungsglieder für die deutsch-amerikanische Freundschaft … Wir sind einander durch Grundwerte verbunden, sosehr wir uns auch voneinander unterscheiden. In solcher Freundschaft ist gegenseitige Kritik notwendig und hilfreich; denn wer gegenüber dem Freunde Kritik unterdrückt, der kann auf die Dauer kein guter Freund bleiben. Wer seine eigenen Interessen gegenüber dem Freunde nicht vertritt, kann eben dadurch Respekt und Freundschaft verlieren. Gerade weil ich vier amerikanischen Präsidenten und Administrationen ein kritischer Partner gewesen bin, deshalb bekenne ich mich in dieser
Weitere Kostenlose Bücher