Menschen und Maechte
wahrscheinlich in jenem Zustrom aus Europa, der jahrhundertelang Menschen über den Ozean brachte, deren Freiheitsdrang besonders stark ausgeprägt war und die sich – im Vertrauen auf die eigene Kraft – aus dem Nichts eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen bereit waren.
Die Weite des Raumes bis zum Pazifik erlaubte eine ungeheure Entfaltung; die Landnahme zu Lasten der indianischen Ureinwohner und deren weitgehende Ausrottung geschahen mit naiver Selbstverständlichkeit. Zugleich war und ist die Weite des eigenen Raumes auch einer der Gründe für die weltpolitische Selbstbeschränkung der Amerikaner, die – ungeachtet einiger imperialistischer Episoden und ungeachtet des Zwischenspiels im Ersten Weltkrieg – bis zum Zweiten Weltkrieg anhielt. Diese Grundtendenz zum Isolationismus nach dem Motto »Die Welt soll uns in Frieden lassen, wir mischen uns auch in ihre Händel nicht ein« und die Monroedoktrin spielen auch heute und in Zukunft eine wichtige Rolle in der amerikanischen Politik. Damit ist zugleich ein empfindlicher Mangel an Weltkenntnis verbunden; das geographische, historische und politische Wissen des amerikanischen Volkes über andere Völker und Staaten außerhalb der »westlichen Hemisphäre«, genauer gesagt: außerhalb des nord- amerikanischen Kontinents, ist relativ gering. Das Geschichtsbild der meisten Europäer war jahrhundertelang
und ist immer noch stark eurozentrisch geprägt; aber eben damit ist schon gesagt, daß es immerhin eine große Zahl von Völkern und Staaten umfaßt. Das Weltbild der meisten Amerikaner – und der meisten amerikanischen Politiker – reicht jedoch nur wenig über die Grenzen des eigenen Landes hinaus. Von daher rührt die Naivität in der Beurteilung und Behandlung anderer Staaten und ihrer Interessen, die wir häufig genug erleben.
Als Mitglied der Bundesregierung und als Bundeskanzler habe ich an der weitgehenden Grundübereinstimmung zwischen den USA und uns nie gezweifelt; wohl aber hatte ich eine große Zahl von Meinungsverschiedenheiten auf wichtigen Feldern durchzustehen. Manche Konflikte konnten schon im Keim erstickt, andere konnten schnell beigelegt werden.
Im wesentlichen gibt es drei verschiedene Kategorien von Meinungsverschiedenheiten zwischen Europa und den USA:
Kurzfristige Diskontinuitäten der amerikanischen Außenpolitik, etwa Carters Embargo für nukleare Brennstoffe gegen die Bundesrepublik; die Affäre um die Neutronenwaffen; das Vorspiel des Olympiaboykotts; die Behandlung Polens nach 1981; das sogenannte Röhrenembargo Reagans im Sommer 1982.
Auseinandersetzungen über die Krise der amerikanischen Gesamtstrategie gegenüber der Sowjetunion; über die amerikanische Vernachlässigung der auf Westeuropa und die Bundesrepublik gerichteten strategischen Mittelstreckenwaffen der Sowjetunion; und prinzipiell über Amerikas Abkehr von der Entspannungspolitik seit 1976 und von der SALT-Politik seit 1980.
Meinungsverschiedenheiten über die Bewältigung der Kette ökonomischer Weltkrisen; zum Beispiel über die erste Dollarkrise 1969 bis 1973, die zugleich eine Krise des Weltwährungssystems von Bretton Woods auslöste; über die strukturelle Weltwirtschaftskrise als Folge der Ölpreisexplosionen 1973/74 und erneut – schwerer wiegend – 1979/80; über die zweite Dollarkrise 1977/79; und – als Folge amerikanischer Rekord-Haushaltsdefizite und deren weitgehender Finanzierung durch das Ausland – die dritte Dollarkrise seit 1985.
Nur ein kleiner Teil der in der ersten Kategorie genannten Meinungsverschiedenheiten war bilateraler Natur, ging also nur die Bundesrepublik und die USA an; die Meinungsverschiedenheiten der zweiten Kategorie betrafen die USA und die europäischen Verbündeten insgesamt, waren also multilateraler Natur; dies galt noch mehr von den Kontroversen der dritten Kategorie. Manche Auseinandersetzungen wären zu vermeiden gewesen oder hätten unter geringeren Reibungsverlusten beigelegt werden können, wenn die politische Klasse in den USA annähernd soviel über russisch-sowjetische Geschichte, über Europa und über die Weltwirtschaft wüßte, wie umgekehrt die politischen Führer der europäischen Staaten gemeinhin über Amerika und über die Sowjetunion wissen.
Wir Europäer müssen unser Wissen über Amerika ständig überprüfen und ergänzen. Bei Kriegsende war mein eigenes Wissen über Amerika äußerst gering; ich mußte es mir in den nächsten zwei Jahrzehnten erarbeiten und bin deswegen oft in die USA gereist.
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