Menschen und Maechte
damals viele deutsche Soldaten –, es werde bald zu einem amerikanisch-russischen Konflikt in Mitteleuropa kommen, aber er sprach nicht davon.
Ich hatte mir Kriegsende und Kriegsfolgen noch weitaus schrecklicher vorgestellt, als es dann gekommen ist. Der Winter 1946 auf 1947 war zwar trostlos; die Menschen hungerten und froren in den zerstörten Städten, in die Millionen von Flüchtlingen aus dem Osten geströmt waren. Aber im September 1946 hielt der amerikanische Außenminister James Byrnes in Stuttgart eine Rede, die den Deutschen wieder eine Zukunftsperspektive entwikkelte. Knapp zwei Jahre später widerstanden die USA der Berlin-Blockade Stalins. Wir sahen das politische und militärische Risiko, das die amerikanische Führung auf sich nahm, und wir bewunderten die Piloten der »Rosinenbomber«. Dies war die Zeit, in der sich die Hoffnungen und das Vertrauen der Deutschen den Amerikanern zuwandten.
Mir waren die Augen über Amerika schon früher aufgegangen. Während meiner Studentenjahre von Ende 1945 bis zum Sommer 1949 im zerbombten Hamburg habe ich auf das Studium nur wenig Zeit verwendet; es fiel uns alten Soldaten auch etwas schwer, den Universitätsbetrieb und die Professorenschaft ganz ernst zu nehmen – obwohl es glanzvolle Ausnahmen gab, Lehrer, die wir sehr verehrten. Einen erheblichen Teil meiner Zeit wendete ich an den Broterwerb, einen weiteren Teil an meine politische Bildung; ich war Ende 1945 zur SPD gegangen und ihr kurz darauf auch formell beigetreten. Der Rest meiner Zeit blieb für die allgemeine Bildung. Jetzt endlich konnte meine Generation, dank Ernst Rowohlts Buchausgaben in Rotationsdruck und Zeitungsformat, die moderne Literatur des Auslands lesen. Jetzt endlich las ich Walt Whitman, Theodore Dreiser, Sinclair Lewis, Upton Sinclair, William Faulkner, Thomas Wolfe, F. Scott Fitzgerald, William Saroyan, Ernest Hemingway, John Steinbeck und wie sie alle hießen. Ich war hingerissen von der Fülle und von der Kraft.
Wenn wir es uns irgend leisten konnten, gingen wir in die Kammerspiele, ein kleines, kaltes Theaterchen in der Hartungstraße. Die Prinzipalin Ida Ehre stellte uns dort mit primitivsten Mitteln, aber mit großartigen Schauspielern (sie selbst eingeschlossen) die zeitgenössischen Stücke des Auslands vor. Eine Aufführung von Thornton Wilders »Wir sind noch einmal davongekommen« mit Hilde Krahl als Putzfrau werde ich nie vergessen.
Im Hungerwinter 1946 lebten wir von 896 Kalorien pro Tag. Aber Tante Marianne bekam ab und zu ein Care-Paket von den Verwandten in Duluth und ließ die ganze Hamburger Sippe am Kaffee teilhaben; Amerika war offenbar ein Wunderland – und unzweifelhaft waren die Amerikaner eine großzügige Nation, von George Marshall und dem Marshallplan bis zu Uncle August in Duluth, Minnesota.
Es war eine turbulente Übergangszeit zwischen dem Kriegsende und der Gründung der Bundesrepublik, eine Zeit, die trotz Hungers und vielfältigen Elends für viele von uns eine großartige geistige Befreiung und Entfaltung bedeutete. Zwei Ereignisse gegen Ende dieser Zeit haben mein Verständnis für die USA besonders
befruchtet. Das eine war die Währungsreform vom Juni 1948, welche der damalige Wirtschaftsdirektor der Bizone, Ludwig Erhard, mit der Abschaffung der meisten Bezugsscheine und Lebensmittelkarten verknüpfte. Dies waren ökonomische Großtaten. Zum ersten Mal in meinem Leben erlebte ich eine funktionierende Marktwirtschaft, von der ich auf der Universität nur gehört und die ich lediglich abstrakt begriffen hatte, ohne sie mir wirklich vorstellen zu können. Für uns hatte bis dahin nur der schwarze Markt existiert: Eine amerikanische Zigarette hatte 6 Reichsmark gekostet; für einen Korb Kartoffeln und ein Brot hatte meine Frau nächtelang Pullover stricken müssen.
Ein Jahr später schrieb ich meine Diplomarbeit über die Währungsreform 1946 in Japan und 1948 in Deutschland. Ich verstand, daß die Währungsreform in Japan viel zu früh, bei völlig ungenügendem Güterangebot, versucht worden war und deshalb hatte fehlschlagen müssen. Ich begriff aber auch, daß die deutsche Währungsreform zwei Jahre später die Voraussetzungen ihres Erfolges dem Marshallplan verdankte. Einer der Köpfe, die hinter der deutschen Reform steckten, der junge Amerikaner Edward A. Tenenbaum, ist, sehr zu Unrecht, kaum in das Bewußtsein der Deutschen gedrungen. Er war das intellektuelle Bindeglied zwischen amerikanischer Militärregierung und deutschen Fachleuten.
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