Menschen und Maechte
Eindruck hat sich mir schon damals aufgedrängt, den ich noch heute – dreieinhalb Jahrzehnte später – an erster Stelle nenne, wenn vom amerikanischen Volke die Rede ist: die ungeheure Vitalität.
Eine große Dynamik und der Hang zum Optimismus, der freilich mit der Neigung einhergeht, Sachverhalte und Probleme bisweilen über die Grenze des Zulässigen hinaus zu vereinfachen, erlauben jene typisch amerikanische Haltung des »Keine Sorge, wir werden das schon schaukeln«; aus dieser Grundeinstellung kommt am Ende auch der Erfolg.
1950 machte Senator Joseph McCarthy viel von sich reden; ein Großteil der einfachen Leute schien seiner exaltierten Kommunistenjagd verfallen zu sein. Mich hat das zwar gestört, denn der Mann kam mir wie eine größenwahnsinnige Taschenausgabe von Marat vor und seine Anklagen erinnerten mich an die Nazis, aber der fanatische, für viele seiner Landsleute gefährliche Unfug Mc-Carthys hat meiner Liebe zu Amerika nichts anhaben können.
1950 vertrat Helmut Schmidt zusammen mit seinem damaligen Chef, dem Senator Karl Schiller, und dem Hamburger Hafendirektor Ernst Plate die Interessen der Hansestadt auf einer internationalen Messe in Chicago. Anschließend besuchte er Verwandte in Duluth, Minnesota.
Bei August Hanft und den Verwandten in Duluth erlebte Helmut Schmidt jene herzerfrischende Spontaneität und Großzügigkeit, die das amerikanische Volk in seinen Augen bis heute kennzeichnet.
Der Bahnhof in Duluth, Minnesota, im Norden der USA. »Uncle August« hatte Schmidt eine Stellung in seiner kleinen Eisengießerei angeboten.
Die Lokalpresse von Duluth ließ den deutschen Gast ausführlich zu Wort kommen; der Artikel des »Herald« dürfte der erste Bericht über Helmut Schmidt in den amerikanischen Medien gewesen sein.
Das persönlichste Erlebnis dieser ersten Amerikareise war die großzügige Freundschaft meiner Verwandten in Duluth, die ich ein langes Wochenende genoß. Als ich am Bahnhof ankam, empfing mich eine größere Zahl von etwa gleichaltrigen Cousins und Cousinen (alle zweiten Grades) samt ihrer Ehegatten; die Cousinen behaupteten, die Ehrenjungfrauen der Stadt zu sein, und küßten mich der Reihe nach ab. Der Empfang durch meine Onkel und Tanten war nicht ganz so überschwenglich, aber doch sehr herzlich. Ein Vierteljahrhundert später bin ich als Bundeskanzler zusammen mit meiner Frau einmal für einen Tag in Duluth gewesen; es gab einen »großen Bahnhof«, und die ganze Sippe traf sich abermals in dem großen Haus meines Cousins Philipp Hanft – die meisten von uns inzwischen ergraut.
1950 war ich eigentlich gekommen, um im Auftrag meiner Tante Marianne und der Hamburger Sippe für die Care-Pakete Dank zu sagen. Ich wurde über Deutschland ausgefragt, aber es gab kein Wort der Anklage wegen der Naziverbrechen und des Krieges, der so viele amerikanische Leben gekostet hatte. Onkel August führte mich in seine von ihm selbst geleitete Fabrik, eine kleine, einfache Eisengießerei. Sie hatte etwa fünfzehn oder zwanzig Arbeiter und Angestellte und schien die ganze Familie gut zu ernähren. Das Faszinierende aber war: Es standen genauso viele Autos davor, wie Leute dort beschäftigt waren, jeder besaß ein Auto! Dergleichen hätten wir in Deutschland nicht zu träumen gewagt; tatsächlich hat die Motorisierung des kleinen Mannes bei uns erst in den siebziger Jahren ein vergleichbares Maß erreicht.
Man muß mir mein Staunen angesehen haben. Jedenfalls machte mir mein Onkel am nächsten Tag ein verlockendes Angebot: »Bleib einfach hier; wir stellen dich in der Fabrik ein. Ein leeres Haus haben wir auch für dich, du brauchst Loki und Susanne nur nachkommen zu lassen.« Da war sie wieder, diese herzerfrischende amerikanische Spontaneität und diese umwerfende Großzügigkeit. Wir haben uns nicht entschließen können, Deutschland zu verlassen,
obschon wir damals mit vier Familien in einer Vierzimmerwohnung ziemlich trostlos hausten. Aber die Freundschaft mit den Verwandten, die mit mir nur einen Urgroßvater gemeinsam haben, und mit ihren Kindern haben wir aufrechterhalten.
Neue amerikanische Freundschaften kamen in den fünfziger Jahren hinzu, besonders nachdem ich 1953 in den Bundestag gewählt worden war. Damals kam es zur ersten Bekanntschaft mit Henry Kissinger, der sich als junger Associate Professor in Harvard mit Strategie beschäftigte; später ist daraus eine zuverlässige Freundschaft geworden. In diesen Jahren lernte ich auch Robert Bowie kennen, der
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