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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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gefährlich-leichtfüßige Treffen mit Chruschtschow in Wien 1961, das dem Bau der Berliner Mauer vorausging, und die Verstrickung der USA in den von Frankreich schon verlorenen Vietnamkrieg zwiespältige Erinnerungen; aber die später in den USA nicht seltene, mitunter scheinheilige, oft zynische Bemerkung, Kennedy sei angesichts des Desasters des Vietnamkrieges rechtzeitig ermordet worden, fand ich widerlich. Die Führungsunsicherheit zur Zeit des Mauerbaus habe ich miterlebt; ich werde den 13. August 1961 nicht vergessen, an dem sich Zehntausende Berliner auf dem Platz vor dem Schöneberger Rathaus versammelten, um ihrer Empörung und ihrer Angst, aber auch ihrer Hoffnung auf Kennedys Eingreifen Ausdruck zu geben. Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt, damals der überragende Führer der Berliner, war offensichtlich ohne befriedigende Zusagen aus Washington geblieben. Ich erlebte seine Rede am Radio mit: Er gab seinen Berlinern Zuversicht, und zugleich hielt er sie ab von unüberlegten und gefährlichen Reaktionen; das war charakterlich und rhetorisch eine Meisterleistung; erst einige Tage später schickte Kennedy seinen Vizepräsidenten Johnson in die zutiefst verunsicherte alte deutsche Hauptstadt. Mit einem Wort: 1961 hatte ich meine Zweifel, ob Kennedy, dem außenpolitische Erfahrungen
offenkundig fehlten, genug Urteils- und Entschlußkraft zur Bewältigung internationaler Krisen besitzen würde.
    Diese Zweifel wurden im Oktober 1962 durch seine unvergleichlichen Operationen zur Beilegung der kubanischen Raketenkrise beseitigt. Ich war damals Senator für Inneres in Hamburg, also von der Bundespolitik und erst recht von der internationalen Politik weit entfernt. Gleichwohl war mir die Gefahr eines bewaffneten Zusammenstoßes der beiden nuklearen Weltmächte, die Gefahr eines neuen Weltkrieges sehr deutlich. Die allwöchentlichen Konferenzen mit meinem Staatsrat Hans Birckholtz und den Amtsleitern der Behörde für Inneres beschäftigten sich denn auch mehr mit der Beobachtung der Weltkrise – für die wir nun wirklich keinerlei Zuständigkeit besaßen – als mit hamburgischen Kommunalangelegenheiten.
    Wir haben den amerikanischen Präsidenten bewundert; fast täglich erörterten wir unter uns, welche Optionen ihm für den jeweils nächsten Schritt zur Auswahl stünden – aber Kennedy und sein Team erfanden etwas, was es historisch oder völkerrechtlich gar nicht gab: eine partielle Seeblockade des Inselstaates, verharmlosend »Quarantäne« genannt, ohne daß geschossen wurde. Daß Washington schließlich den Knoten lösen konnte, den Chruschtschow in draufgängerischem Abenteurertum geschürzt hatte, ohne diesen als großen Verlierer hinzustellen, weil Kennedy große Mühe daran wendete, ihn das Gesicht wahren zu lassen, hat mich stark beeindruckt.
    Die Kuba-Krise und die Art ihrer Beilegung hat die spätere Entwicklung des Verhältnisses der beiden nuklearen Weltmächte zueinander, auch die Beziehungen zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten – insbesondere zu dem Frankreich de Gaulles – wesentlich beeinflußt, allerdings nicht nur in positiver Hinsicht. Damals, 1962, stand aber Kennedys Leistung im Vordergrund. Der Präsident entsprach den politischen Wunschvorstellungen vieler Deutscher von einem politischen Führer: ein Idealist mit einer großen Vision und einer kleinen Ingredienz Romantik, zugleich aber ein Mann praktischen, erlebbaren Erfolgs. Der ideale Staatsmann soll nach einer weitverbreiteten illusionären Vorstellung
des Publikums ein mitreißendes Bild von der Zukunft entfalten; zugleich soll er es aber auch verwirklichen. Er soll sympathisch sein – sogar ein Quentchen erotische Anziehungskraft ausstrahlen – und ein großer Redner; aber er soll auch ein guter Rechner sein. Er soll wahrhaftig und durchsichtig sein, zugleich aber ein »Realpolitiker«. Diese niemals in einer Person vereinten Eigenschaften und Fähigkeiten hatten die Deutschen bei Schumacher, Adenauer und Erhard nur partiell gefunden. Jetzt aber schien es, als ob ein junger amerikanischer Präsident alle diese Wunschvorstellungen zugleich erfüllte.
    Viele Deutsche waren unter diesem Eindruck bereit, sich der amerikanischen Führung ohne Vorbehalte anzuvertrauen. Wir wären auch bereit gewesen, der deutsch-amerikanischen Freundschaft Opfer zu bringen, wenn Kennedy an uns appelliert hätte. Seine Rede am 4. Juli 1962 in Philadelphia schien uns zu demonstrieren: Dieser amerikanische Präsident hat Europa

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